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Warum singen wir in der Kirche?

Gesang gehört zum christlichen Gottesdienst dazu. Es schließt das Sinnliche des Affekts in das Geistige des Wortes ein.
Priester Petr Machacek und Altardiener der Gemeinde St. Johannes in Brünn bei einer Rorate Caeli Messe, die im Advent und bei Gesang und Kerzenschein gefeiert wird.
Foto: IMAGO/Patrik Uhlir (www.imago-images.de) | Priester Petr Machacek und Altardiener der Gemeinde St. Johannes in Brünn bei einer Rorate Caeli Messe, die im Advent und bei Gesang und Kerzenschein gefeiert wird.

Das Sprechen, so lese ich in dem soeben erschienenen Buch „Leben der Stimme“ von Hans Ulrich Gumbrecht, artikuliere „vornehmlich im Geist gebildete Bedeutungen, während Singen hauptsächlich unsere Stimme in ihren physischen Qualitäten vorführt.“ Man könnte auch sagen: Das Singen spricht uns anders und mehrfach an, es steigert den affektiven Gehalt. Singende gehen mehr in die Emotion hinein als bloß Sprechende und erreichen auch das Gefühl der Zuhörenden stärker. Im Gesang erreicht der menschliche Ausdruck seine höchsten Möglichkeiten, indem er sich künstlerisch gestaltet. Im Tanz (oder in den Haltungen und Gebärden während der Messe) tritt die Bedeutung stumm auf, im Gesang öffnet sie sich. Gesang ist das unüberbietbare Medium des Ausdrucks. 

Schon David erkannte den therapeutischen Charakter der Musik

Und deshalb verlangt die Liturgie geradezu das Singen – es ist schon an sich selbst ein Fest, in der griechischen und östlichen Orthodoxie sogar noch entschiedener als in der katholischen Kirche, weil dort auf die Orgelbegleitung verzichtet wird. Der Islam dagegen verpönt Singen und Musik im Gottesdienst. Zwar ruft der Muezzin auf seine spezielle Art zum Gebet. Die Rezitatoren des Korans sollen durchaus kunstvoll vortragen, aber niemals die Grenze zum Gesang überschreiten: Man bleibt in der Sphäre der, wie Gumbrecht sagt, „im Geist gebildeten Bedeutungen“. In der radikalen Auslegung, wie sie derzeit in Afghanistan herrscht, darf überhaupt nicht musiziert werden; Instrumente werden zerstört. Frauen dürfen nicht mehr vor anderen singen. Das Sinnliche der singenden Stimme, so muss die dortige Idee verstanden werden, verunreinige das absolut Unkörperlich-Geistige der Bedeutung. So, wie sich in jener Glaubenswelt der Höchste nicht inkarnieren darf, das Wort nicht Fleisch werden soll, so soll die höchste geistige Bedeutungsstufe nicht in das menschlich-nahe Singen hineingezogen werden. Allah ist, nach der schönen Formulierung des Philosophen Hegel, „der Verhältnislose“. Christlich dagegen ist die innigste Verbindung des Menschlichen und des Göttlichen. 

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Lange glaubte ich, das „Sanctus, sanctus, sanctus“ der hohen Engel, von dem der Prophet Jesaja in seiner Vision berichtet, sei gesungen worden, musste mich aber bei erneuter Lektüre überzeugen, dass dort von einem „Rufen“ die Rede ist, allerdings von einem ungeheuren, hocherhabenen, bei dem die himmlischen Türschwellen erbebten und Rauch erschien. Anweisungen zum Singen geben die Psalmen, bei vielen ist die Begleitung durch ein Saiteninstrument im Text erwähnt. Das Wort kommt vom griechischen psállein, „ein Saiteninstrument spielen“. David, dem so viele Psalmen zugeschrieben werden, erkannte den therapeutischen Charakter der Musik angesichts der verdüsterten Stimmung des Königs Saul: er „griff zur Harfe und spielte. Dann wurde es Saul leichter.“ (1. Samuel 16, 23) An herausgehobener Stelle erscheint der Gesang in der Offenbarung des Johannes: die „Stimme, die ich hörte, klang, wie wenn Harfenspieler ihre Harfen schlagen. Und sie sangen ein neues Lied vor dem Thron.“ (Offb 14, 2-3) Das Lob des Singens ergeht gegen Ende des abschließenden Buchs der Bibel.  

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