Dabei unterstreicht Raphaël Enthoven im Gespräch mit der Kulturjournalistin Ute Cohen: „Wir verwechseln leicht Fülle und Exzess. Man nennt Überfluss das, was zu viel ist. Der Konsument kauft das, was er nicht wirklich begehrt. Selbst der Reiche hat nie genug. Fülle aber ist etwas anderes: Fülle ist die Fähigkeit, sich reich zu fühlen mit dem, was man hat. Ein Epikureer macht keinen Unterschied zwischen einem Teller mit Kaviar und einem mit Karotten, weil das nicht von ihm abhängt. Von ihm selbst aber hängt ab, in gleichem Maße die Karotte und den Kaviar genießen zu können. Das ist eine Schule der Fülle. Fülle bedarf keiner Fülle. Mir gefällt der Gedanke, dass die Welt selbst ein Synonym für Fülle ist. So findet man seinen Platz in der Welt.“
Der erste Philosoph, der Minimalismus und Fülle in Verbindung gebracht habe, so Raphaël Enthoven, sei Plotin gewesen, „der Theoretiker der menschlichen Selbstgestaltung. Im 3. Jahrhundert empfahl er uns, konstant alles Überflüssige abzulegen. Ein unendliches Unterfangen! Vor allem müssten wir uns des Materiellen entledigen. Wenn wir zum reinen Geist gelangen, haben wir Zugang zur wahren Fülle. Die Bedingung für Fülle ist eine Gleichgültigkeit gegenüber der Fülle. Reinigung statt Zugriff. Fülle ist die Erfahrung des Mangels, so auch Glück. Eine innere Fülle bedarf aber nicht einmal externer Kriterien.“
Die Rolle der Religionen
Was die Rolle der Religionen betrifft, ist Enthoven optimistisch: „Die Schönheit des religiösen Gefühls besteht darin, dass es selbstlos ist. Glaube und Liebe lösen sich nicht auf in einer kommerziellen Welt. Es gibt etwas, das nicht gerechtfertigt werden kann. Das muss man schätzen in einer Welt, in der die Logik gilt. Gefährlich wird es für die Religion, wenn sie sich vom Kapitalismus vereinnahmen lässt.
Der Gläubige muss das intime Band zwischen ihm und Gottes Wort bewahren. Religion aber ist nicht gefährdet durch den Kapitalismus, glaube ich, denn das Verlangen nach Transzendenz und Moral ist extrem machtvoll in einer Epoche, in der wir zum kurzfristigen Denken angeregt werden. Das Verlangen nach Transzendenz ist umso heftiger in einer Zeit, wo Freiheit sich beschränkt auf den materiellen Genuss. Wir können das religiöse Gefühl nicht bekämpfen, denn es ist Ausdruck selbst unserer Fassungslosigkeit.“ DT/mee
Ute Cohen im Gespräch mit Raphaël Enthoven. Lesen Sie das ganze Interview in der Ausgabe der „Tagespost“ vom 1. Juni.