Die Sprache ist ein trefflicher Seismograph der allgemeinen Befindlichkeit. Im zweiten Jahr der Covid-Pandemie häufen sich sprachliche Symptome der Verwirrung. Wenn etwa der soeben zurückgetretene österreichische Bundeskanzler Alexander Schallenberg davon sprach, dass man nun „die Daumenschrauben anziehen müsse“, regt dies natürlich ebenso auf wie die Ansage des Wiener Dompfarrers Toni Faber, der es mit „Kein Mitleid für Ungeimpfte“ in die Schlagzeilen brachte.
Missglücktes Wording als Signal hochgradiger Nervosität
Abgesehen von derartigen Beispielen missglückten Wordings als Signale hochgradiger Nervosität, generiert die Pandemie ein ganzes Wörterbuch an seltsamer Sprachverwendung: Wir denken in „Wellen“ (mittlerweile ist es die vierte), „testen uns frei“, holen uns den „dritten Stich“ und „boostern“ die Antikörper, damit wir hoffentlich nicht irgendwann einen „positiven Test“ haben oder jedenfalls schnell wieder „negativ“ sind. Negativ ist das neue Positiv.
Aktuell verstört jedoch am meisten, wenn bei den Demonstrationen gegen die Covid-Schutzmaßnahmen und die angekündigte Impfpflicht immer wieder Schilder mit „My body, my choice“, also „Mein Körper, meine Entscheidung“ auftauchen. Was soll dieses Aufgreifen der klassischen Slogans der Abtreibungslobby in anderem Kontext? Das verharmlosende Recycling passiert allerdings nicht nur in Österreich, auch die „New York Times“ analysiert das gleiche Phänomen für die USA: Just in dem Moment, in dem das Grundsatzurteil „Roe v. Wade“ revidiert werden könnte, habe Amerikas Rechte eine „Obsession“ für körperliche Selbstbestimmung entwickelt und den Slogan „My body, my choice“ auf Corona-Impfstoffe und Maskenpflicht umgemünzt, heißt es in der US-Zeitung.
Kontext des Sprechens mit Realitätsbezug handhaben
Was Österreich betrifft, so könnte das fatale Reframing besagter Slogans eventuell auch damit zusammenhängen, dass der hiesige Chefaktivist in Sachen Abtreibung, der Arzt Christian Fiala, die Proteste wesentlich mitträgt. Umso schlimmer! Denn Sprache wirkt, wie wir wissen. Lassen wir nicht zu, dass lebensfeindliche Slogans via verfremdete Kontexte in unsere Köpfe kriechen und es sich dort bequem machen.
Übrigens sei auch jenen, die dieser Tage in Bezug auf Österreich vor einer „neo-marxistischen Covid-Tyrannei und -Diktatur“ warnen, wie etwa der kasachische Weihbischof Athanasius Schneider, geraten, ihre Sprache und den Kontext ihres Sprechens mit etwas mehr Realitätsbezug zu handhaben. Zumindest, um nicht die Opfer echter Diktaturen vor den Kopf zu stoßen.
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