Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Im Blickpunkt

Ohnmächtig, und dennoch Salz der Erde

Das Oberhaupt der katholischen Chaldäer ist so machtlos, dass er seine Rechte als Patriarch nicht schützen kann, aber so souverän, eine Vision für den leidgeprüften Orient vorzulegen.
Louis Sako, der Patriarch der chaldäisch katholischen Kirche im Büro der Vereinten Nationen in Genf.
Foto: Salvatore Di Nolfi (KEYSTONE) | Louis Sako, der Patriarch der chaldäisch katholischen Kirche im Büro der Vereinten Nationen in Genf.

Die traditionsreichen, alteingesessenen christlichen Kirchen im Orient sind wie fragile, kleine Fischerboote, die schon lange in einem Ozean des Islam navigieren. Sie sind keine „Westler“, die mit dem Fallschirm hier absprangen und nötigenfalls von einem amerikanischen Schnellboot aus dem Wasser gezogen werden. Im Gegenteil: Die Torpedos der US-Marine – um im Bild zu bleiben – vermögen den Ozean nicht grundsätzlich zu verändern, bringen aber die Fischer mit ihren Booten in Lebensgefahr. Am deutlichsten ist das im Irak abzulesen, wo die US-geführte Invasion im Jahr 2003 jenes Drama einleitete, das zu einem Massenexodus der Christen aus dem Zweistromland führte. Die kleinen, alten Boote sind bei stürmischem Seegang eben am meisten gefährdet.

Lesen Sie auch:

Das Oberhaupt der altorientalischen, mit Rom unierten Chaldäer, Patriarch (und Kardinal) Louis Raphael Sako, fasst die Lage so zusammen: Der Irak werde durch Krisen, Konflikte und Kriege erschüttert; die irakischen Christen litten unter Entführungen, Morden, Vertreibungen und Ausgrenzungen. An die Stelle der Unrechtsordnung von Saddam Hussein trat keine neue Rechtsordnung, sondern Chaos, Willkür und Unberechenbarkeit. Patriarch Sako wurde zuletzt selbst ein Opfer der politischen Willkür. Seine Rechte als Oberhaupt der chaldäischen Kirche wurden vom Präsidenten aus politischen Motiven beschnitten; Sako musste aus Bagdad in die kurdischen Autonomiegebiete fliehen. Dieser Rückzug in den Norden sagt alles über den Zustand der irakischen Staatlichkeit aus: Die Schwachen sind der Willkür der Starken ausgeliefert, die Minderheiten werden zum schutzlosen Opfer vermeintlicher Mehrheiten. 

Eine Vision für den Irak

Doch der oberste Repräsentant der leidgeprüften katholischen Chaldäer beweist gerade in dieser Situation, was es bedeutet, „Kirche im Islam“ zu sein. Denn Sako ist zwar so machtlos, dass er seine Rechte als Patriarch nicht schützen und die Sicherheit der Kirchen und Klöster nicht gewährleisten kann, aber so souverän und innerlich frei, dass er eine Vision für das ganze Land vorlegt. So öffnete er vor den Ohren der Nation die Schatztruhe ihrer alten Zivilisation und Kultur. Und er beschrieb die Vision eines Staates, in dem das Gemeinwohl über den Egoismus triumphiert, in dem die Bürgerrechte aller – unbeachtet ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit – geachtet werden, in dem das Gemeinsame Vorrang erhält vor dem Trennenden, in dem Erziehung und Bildung zu gemeinsamen Prioritäten erhoben werden, in dem Korruption geächtet wird und Verbrecher zur Rechenschaft gezogen werden.

Kein Zweifel, dass der Irak von heute Lichtjahre von der Vision des Patriarchen entfernt ist. Und selbstverständlich hat er keinerlei Machtmittel, seinen Ideen zur unmittelbaren Durchsetzung zu verhelfen. Dennoch kann das Oberhaupt der Chaldäer damit auch viele Muslime erreichen, denn die Mehrzahl von ihnen leidet auf die eine oder andere Weise unter Rechtlosigkeit, Korruption, Willkürherrschaft und Chaos. Und die politische Klasse hat bestenfalls die Interessen ihrer jeweiligen Klientel im Blick, nicht aber das Gemeinwohl. Patriarch Sako hat neuerlich gezeigt, wie sich eine „Kirche im Islam“ profiliert: indem sie – im Gegensatz zum Rest der Gesellschaft – nicht auf ihre Interessen, ihre Leute, ihre Macht schaut, sondern auf das, was für alle gut, richtig und befreiend ist, auf das Gemeinwohl. So agiert die Kirche nicht aus taktischen Gründen oder strategischen Überlegungen, sondern weil ihre Berufung seit jeher darin besteht, Salz der Erde und Licht der Welt zu sein.

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Themen & Autoren
Stephan Baier Christliche Kirchen Kardinäle Muslime Religiöse und spirituelle Oberhäupter Saddam Hussein Visionen

Weitere Artikel

Jean-Claude Juncker analysiert im „Tagespost“-Interview Putin, Trump und Xi und spricht über Naivität, Schwächen und Visionen der Politik.
05.03.2024, 16 Uhr
Vorabmeldung

Kirche

Yannick Schmitz, Referent beim Berliner Vorortspräsidium des Cartellverbandes, sieht gute Gründe dafür, dass der Verband künftig wahrnehmbarer auftritt.
27.04.2024, 13 Uhr
Regina Einig
Die deutschen Bischöfe werden beim Synodalen Ausschuss wohl keine kirchenrechtskonforme Lösung finden. Das Mehrheitsprinzip eröffnet einen rechtsfreien Raum.
25.04.2024, 11 Uhr
Regina Einig