Papst Leo XIV. hat offenbar Teile der religiösen Rechten in den USA verärgert. In den sozialen Netzwerken problematisieren ihre Vertreter – vielfach offenbar geradezu genüsslich – ein Statement, das der Papst Journalisten am Dienstag in Castel Gandolfo gegeben hatte. Dabei sagte er: „Jemand, der sagt, er sei gegen Abtreibung, aber für die Todesstrafe, ist nicht wirklich für das Leben. Jemand, der sagt, er sei gegen Schwangerschaftsabbrüche, aber mit der unmenschlichen Behandlung von Einwanderern in den Vereinigten Staaten einverstanden, dann weiß ich nicht, ob das Pro-Life ist.“
Sogleich werden im Netz Kirchenlehrer und frühere Päpste aufgefahren, um zu zeigen, dass man als Christ gegen Abtreibung, aber für die Todesstrafe sein könne. Dabei wird übersehen: Auch die Kirche lernt dazu. Heute vertritt sie etwa die Simultanbeseelung. Während der größte aller Kirchenlehrer, der heilige Thomas von Aquin (1224/25–1274), noch die Sukzessivbeseelung lehrte.
Erkenntnisse und Gewichtungen können sich ändern
Das muss nicht wundern. Nicht nur Erkenntnisse (im Falle des heiligen Thomas etwa die der Biologie) ändern sich. Auch Gewichtungen und Perspektiven wandeln sich. Wurde die Abtreibung früher etwa in erster Linie abgelehnt, weil es sich bei ihr um die Tötung eines wehrlosen und unschuldigen Geschöpfes handelt, so ist in jüngster Zeit die Ebenbildlichkeit Gottes eines jeden Menschen stärker in den Blick geraten.
Ähnliches gilt für den Umgang mit Heiden. Dass die Menschen wegen ihrer Gottesebenbildlichkeit von Natur aus gleichwertig seien, war nicht immer Allgemeingut der Gläubigen. Es brauchte einen Bartolomé de Las Casas (1474–1566), um den indigenen Völkern zu ihrem Recht zu verhelfen und sie vor Sklaverei und Zwangskonversionen zu schützen.
Manche Argumente erledigen sich mit der Zeit von allein
Überdies erledigen sich manche Argumente einfach mit der Zeit. Ließ sich früher die Todesstrafe etwa unter anderem damit rechtfertigen, dass es gelte, die Allgemeinheit vor einer dauerhaften Bedrohung zu schützen, hat sich dies in einer Welt, die Hochsicherheitsgefängnisse baut, von selbst erledigt. Auch mag es sein, dass in Zeiten, in denen Hinrichtungen öffentlich veranstaltet wurden, die Verhängung der Todesstrafe eine abschreckende und erzieherische Wirkung besaß. Heute, wo auch diese Praxis eine andere ist, kommen Studien zu anderslautenden Ergebnissen.
Worum es dem Papst wirklich ging, ist nicht schwer zu erraten. Um die Hartherzigkeit und Selbstgerechtigkeit, die auch vor Gläubigen nicht Halt macht. Ihr Aufschrei zeigt, dass Leo XIV. die Finger in eine offene Wunde gelegt hat.
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