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Joseph Ratzinger, der Visionär

Zu seinem 94. Geburtstag kann Benedikt XVI. selber ein Zeitzeuge dafür sein, dass sich seine Vorausschau von 1969 heute erfüllt.
Papst Benedikt hatte den Geist des Abendlands verkörpert
Foto: Gregorio Borgia (AP) | Er hatte den Geist des Abendlands verkörpert, er war ein Schwergewicht der Überlieferung und Vernunft: der emeritierte Papst Benedikt XVI., zu sehen auf einer Aufnahme aus dem Jahr 2015.

Es kann ihn mit Genugtuung erfüllen, wird es aber wohl nicht. Der emeritierte Papst Benedikt XVI., der heute 94 Jahre alt wird, erlebt zurzeit, dass sich seine prophetische Vorausschau, die er vor über einem halben Jahrhundert zunächst in einem Radiovortrag formuliert hat, heute exakt erfüllt. Zu Weihnachten 1969 hatte der junge Theologe Joseph Ratzinger in einem Beitrag zum Thema „Was heißt katholisch – oder die Kirche im Jahr 2000“ eine große Krise des Glaubens und der Kirche vorausgesagt, wie sie inzwischen eingetreten ist und nicht nur in den Missbrauchsskandalen ihren Ausdruck findet, sondern auch im schwindenden Kirchenbesuch, dem Verlust der Strahlkraft des kirchlichen Lebens und den einbrechenden Zahlen bei den Berufungen zu Ordensleben und Priestertum. 

„Die Kirche wird ihre Bauten nicht mehr füllen können“

Aus dieser Krise, so Ratzinger damals, werde „eine Kirche morgen hervorgehen, die viel verloren hat. Sie wird klein werden, weithin ganz von vorne anfangen müssen. Sie wird viele der Bauten nicht mehr füllen können, die in der Hochkonjunktur geschaffen wurden. Sie wird mit der Zahl der Anhänger viele ihrer Privilegien in der Gesellschaft verlieren. Sie wird sich sehr viel stärker gegenüber bisher als Freiwilligkeitsgemeinschaft darstellen, die nur durch Entscheidung zugänglich wird. Sie wird als kleine Gemeinschaft sehr viel stärker die Initiative ihrer einzelnen Glieder beanspruchen.“ Diesen Vortrag hat er dann 1970 in dem Büchlein „Glaube und Zukunft“ im Kösel-Verlag veröffentlicht.

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Die Zukunft gehört denen, die aus der Fülle des Glaubens leben

„Aber bei allen diesen Veränderungen, die man vermuten kann“, meinte der damalige Dogmatikprofessor weiter, „wird die Kirche ihr Wesentliches von neuem und mit aller Entschiedenheit in dem finden, was immer ihre Mitte war: Im Glauben an den dreieinigen Gott, an Jesus Christus, den menschgewordenen Sohn Gottes, an den Beistand des Geistes, der bis zum Ende reicht. Sie wird in Glaube und Gebet wieder ihre eigentliche Mitte erkennen und die Sakramente wieder als Gottesdienst, nicht als Problem liturgischer Gestaltung, erfahren.“ Ratzinger wusste schon damals, dass die Zukunft der Kirche nur aus der Kraft derer kommen kann, „die tiefe Wurzeln haben und aus der reinen Fülle ihres Glaubens leben. Sie wird nicht von denen kommen, die nur Rezepte machen. Sie wird nicht von denen kommen, die sich nur dem jeweiligen Augenblick anpassen. Sie wird nicht von denen kommen, die nur andere kritisieren, aber sich selbst als unfehlbaren Maßstab annehmen. Sie wird also auch nicht von denen kommen, die nur den bequemeren Weg wählen. Die der Passion des Glaubens ausweichen und alles das für falsch und überholt, für Tyrannei und Gesetzlichkeit erklären, was den Menschen fordert, ihm wehe tut, ihn nötigt, sich selbst preiszugeben. Sagen wir es positiv: Die Zukunft der Kirche wird auch dieses Mal, wie immer, von den Heiligen neu geprägt werden.“

Immer war es der Hund, der starb

Zwar steht der Synodale Weg mit seiner Fixierung auf Strukturen und Anpassungen an das, was die modernen Humanwissenschaften angeblich erfordern, im Zentrum der Aufmerksamkeit der innerkirchlichen Öffentlichkeit. Aber es gibt eben auch die andere Seite, die Joseph Ratzinger vor über fünfzig Jahren gesehen hat: Jene, die eine Reform der Kirche aus der Fülle des gelebten Glaubens wollen. Diese Kernzellen der Kirche von morgen werden von den säkularen Medien kaum wahrgenommen und von den katholischen Organen des Mainstreams mit Schlagworten wie „Ghetto-Katholiken“ oder denen „im Elfenbeinturm“ belegt. Aber es gibt sie: Die Familien, in denen die Weitergabe des Glaubens noch funktioniert, die geistlichen Gemeinschaften, in denen Jesus Christus im Mittelpunkt steht, Zentren eines wirklich religiösen Lebens sowie Initiativen und Zusammenschlüsse von Gläubigen, die missionarisch wirken. Ihnen gehört die Zukunft. In seiner prophetischen Vision von damals hat Ratzinger das bekannte Diktum von G. K. Chesterton neu formuliert, wonach es in ihrer langen Geschichte schon oft so ausgesehen hat, als würde die Kirche vor die Hunde gehen. Aber jedes Mal war es eben der Hund, der starb.

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