Für den Mainzer Bischof Peter Kohlgraf ist der Rückgang der Kirchenbindung in Deutschland keine unumkehrbare Realität, sondern eine Chance zur Neuausrichtung. In einem am Montag veröffentlichten Interview mit dem Portal „katholisch.de" rief er dazu auf, die Verkündigung des Glaubens stärker im Alltag zu verankern und erfahrbar zu machen – und äußerte sich zugleich kritisch zu bestimmten Formen der Neuevangelisierung.
Der Bischof betonte, dass Glaubensweitergabe mehr erfordere, als die kirchliche Lehre zu vermitteln. „Menschen finden nicht zum Glauben, nur indem man ihnen die Glaubenslehre erklärt“, so Kohlgraf wörtlich. Vielmehr brauche es konkrete Angebote von Glaubenserfahrungen. „Der gelebte Alltag bietet viele Chancen, das Evangelium praktisch erfahrbar zu machen.“ Die Kritik, es habe in den vergangenen Jahrzehnten an guter Katechese gemangelt, wies er zurück: „Den Schuh ziehe ich mir persönlich nicht an.“ Allerdings räumte er ein, dass viele Menschen, etwa in Erziehungs- oder Bildungsberufen, heute „nicht mehr sprachfähig“ seien, wenn es um Glaubensinhalte gehe. Hier brauche es einen tieferen Zugang zu theologischen Grundlagen.
„Nicht das absolute Erfolgskonzept“
Skeptisch zeigte sich Kohlgraf gegenüber Gemeinschaften, die sich der Neuevangelisierung verschrieben haben. Neuevangelisierung sei „zuweilen zu einem Kampfbegriff geworden", so der Bischof. Der Begriff insinuiere, dass es einst so etwas wie „einen idealen Endzustand von Evangelisierung" gegeben habe. „Neuevangelisierung transportiert immer eine Vorstellung, dass da eine Gruppe loszieht, die das Evangelium besitzt – und weiß, wie es geht. So einfach geht das nicht“.
Auch der oft zitierte Erfolg dieser Gruppen sei aus seiner Sicht relativ, so Kohlgraf. Bezogen auf die rund 600.000 Katholikinnen und Katholiken im Bistum Mainz seien diese Bewegungen „quantitativ nicht die maßgeblichen“. Mit Blick auf Länder wie Frankreich, wo derzeit vergleichsweise viele Erwachsenentaufen verzeichnet werden, äußerte Kohlgraf zudem Zweifel daran, ob äußere Kennzahlen wie volle Kirchen tatsächlich etwas über den persönlichen Glauben aussagen würden.
Für Kohlgraf gehört zur Evangelisierung auch die Arbeit an kirchlichen Strukturen. Wo institutionelle Formen Menschen vom Glauben entfremdeten oder ihn verdunkelten, müsse sich die Kirche verändern. Ziel sei eine „glaubwürdige Gestalt“, in der das Evangelium „wieder strahlen“ könne. Als Beispiele nannte er Themen wie Geschlechtergerechtigkeit und Sexualmoral, die „im Kontext des Evangeliums neu bewertet werden müssen“.
Den Glauben sichtbar leben
Darüber hinaus ermutigte der Bischof die Gläubigen, sich offen zu ihrem Christsein zu bekennen. Es gehe darum, den Glauben nicht zu verstecken, sondern ihn im Alltag sichtbar zu machen. Mit Verweis auf die Enzyklika „Deus caritas est" von Benedikt XVI. sagte Kohlgraf: „Es gibt Situationen, wo es gut ist, von Christus zu sprechen, und es gibt Situationen, wo es auch gut ist, zu schweigen.“
Abschließend appellierte er an die Kirche insgesamt, sich nicht als abgeschottete „Sonderwelt“ zu begreifen, sondern als Teil der Gesellschaft, der etwas beizutragen hat. Entscheidend sei nicht eine missionarische Marktlogik, sondern ein glaubwürdiges Zeugnis: „Die Glaubwürdigkeit von Menschen, die an Christus glauben, ist eines der wichtigsten Zeugnisse für unsere Gesellschaft." DT/dsc
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