Ein lauer Herbstwind treibt herabgefallene Blätter über die zur Kirche hinaufführenden Steinstufen. Krähen krächzen weit oben am grauen Himmel. Imposant erhebt sich das Würzburger Käppele an diesem mystischen Ort. Die schwere Eichentür eröffnet den Blick auf das prachtvolle Innere der Kirche – Deckenfresken, Kronleuchter und das Gnadenbild.
„Es kann kein Zufall sein“, meint Ludwig Lannig, und beginnt zu erzählen: Als er einer jungen Mutter telefonisch zur Geburt ihres dritten Kindes gratulieren wollte, erhielt er von ihrer Familie eine schreckliche Nachricht. Sie sei während der Geburt ins Koma gefallen, die Ärzte könnten nicht sagen, wann oder ob sie wieder aufwache. Er habe diesen dringlichen Wunsch in das Anliegenbuch im Käppele geschrieben, es in die Fürbitten aufgenommen und sein gesamter Gebetskreis habe intensiv dafür gebetet, dass sie wieder gesund werde. Nach einer Woche erwachte sie wieder. Auch ihrem Kind gehe es gut, es sei heute zehn Jahre alt.
Generationen von Pilgern wurden schon erhört
Dies ist nur eine von vielen wunderbaren Geschichten, die Lannig über das Käppele erzählen kann. Er ist der Vorsitzende der Maria-Schmerz-Bruderschaft, einer Vereinigung von über 1000 katholischen Männern: 1754 gegründet, sorgen sie seit dieser Zeit für das Käppele – tatkräftig, finanziell und mit Gebet. Sie trugen schon einmal den für Bauarbeiten notwendigen Kalk und Sand hoch, geben gesammelte Spenden an das Käppele weiter, und jeden zweiten Sonntag treffen sie sich zur Messe sowie zum gemeinsamen Rosenkranzgebet.
Kann es Wunder geben? Die Besucher der Wallfahrtskirche glauben jedenfalls daran, dass ihre Gebete erhört werden. Generationen von Pilgern haben über die Jahrhunderte Dankesgaben, Votive genannt, für der Gottesmutter zugeschriebene Heilungen hinterlassen, die heute im sogenannten Mirakelgang der Kirche ausgestellt sind. Bei einem Votiv oder einer Votivgabe handelt es sich um ein Opfer- oder Weihegeschenk, das aus Dankbarkeit, als Bitte oder zur Erinnerung an eine überstandene Not gestiftet wird. Aus Wachs geformte Gliedmaßen, die den geheilten Körperteil darstellen, Wachsfiguren, Votivbilder, die Geschichten von Rettungen erzählen, sowie unzählige Rosenkränze säumen das Nebenschiff des Käppeles. Wünsche können in schriftlicher Form im Anliegenbuch festgehalten werden.
Ein Wallfahrtsort in den Hügeln
Gerade in der Coronazeit sei die Nachfrage nach dem Buch explodiert, erläutert Franziskaner-Bruder Josef Fischer, der gemeinsam mit seinem Mitbruder Franz-Maria Endres die Seelsorge im Käppele innehat. Beim Blättern fällt in den Blick, dass von jemandem auch eine Frage gestellt worden ist: „Wo ist Gott?“ - „Gott ist da! Immer!“ steht als Antwort einer anderen Person daneben. So entstehen zwischen den Pilgern mitunter Dialoge. Auf Grund des Ukrainekrieges sind zunehmend auch Wünsche in kyrillischer Schrift im Anliegenbuch zu finden.
Seinen Anfang nahm der Wallfahrtsort 1640, als ein Fischersohn ein Gnadenbild aus dem Main zog und in die Weinberge stellte. Daraus wurden zunächst ein Bildstock und später eine Kapelle. Nachdem mehrere von der gegenüberliegenden Festung Marienberg gesichtete nächtliche Lichterscheinungen berichtet wurden, wurde der Wallfahrtsort in der Bevölkerung immer beliebter. Schließlich wurde in den Jahren von 1748 bis 1750 nach Plänen von Balthasar Neumann im barocken Stil die heutige Kirche erbaut.
Wundersame Wahrung vor der Zerstörung
Seitdem entging das Käppele bereits drei Mal auf wundersame Weise der Zerstörung: das erste Mal im deutsch-französischen Krieg 1781, und danach zwei Mal 1945, im letzten Jahr des zweiten Weltkriegs. Bei einem Fliegerangriff der Alliierten wurde das Gebäude in Brand gesetzt, der glücklicherweise durch tatkräftigen Einsatz der am Käppele ansässigen Kapuzinerbrüder schnell gelöscht werden konnte. Eine besonders bewegende Episode ereignete sich im April 1945, als ein Soldat der Wehrmacht den Befehl erhielt, das bereits von amerikanischen Truppen besetzte Gebäude zu beschießen. Der Soldat täuschte vor, keine passende Munition zu haben – ein mutiger Akt, der das Käppele rettete.
Auch in der heutigen Zeit erfreut sich die der Jungfrau Maria geweihte Wallfahrtskirche großer Beliebtheit. „Es kommen Personen, die eine besondere Verehrung der Muttergottes pflegen und die in diesen, auch innerkirchlich, bewegten Zeiten heute eine Beheimatung und einen Zufluchtsort suchen“, erklärt Bruder Josef. Das Käppele sei keine Pfarrkirche und könne deshalb andere Aufgaben wahrnehmen. Jeden Tag finde eine Pilgermesse statt, kürzlich habe es einen Segensgottesdienst für Familien gegeben. Auf Grund ihrer Lage und ihrer Schönheit sei die Kirche auch ein beliebter Ort für Hochzeiten.
Die Restaurierung wird den Innenraum neu erstrahlen lassen
Der Innenraum des Käppele ist in der Tat beeindruckend: Ins Auge sticht die Einrichtung im Stil des Rokoko bis zum Klassizismus. Dazu gehören das Mariä Heimsuchung darstellende Hochaltarbild, sowie zahlreiche Engel und Darstellungen fränkischer Heiliger. Den Besuchern wird versichert, dass es nach der geplanten Restaurierung noch viel schöner ausschauen soll, denn über die Jahrzehnte hätte sich der Innenraum verrußt. Diakon Ulrich Wagenhäuser verweist auf die Decke, wo drei Themenkreise in sich vereinigende Fresken zu sehen sind: Die „Krönung Mariens“, „Maria als Patronin Frankens“ und die „Huldigung Frankens an Maria“. Kleine Stellen, die bereits von Ruß der Kerzen befreit wurden, machen den erstaunlichen Helligkeitsunterschied deutlich. Ab 2025 solle eine umfassende Restaurierung beginnen, die etwa vier Jahre dauern werde. Ein Budget von rund sechs Millionen Euro werde bereitgestellt, um die kunstvolle Pracht des Innenraums zu erhalten und in neuem Glanz erstrahlen zu lassen.
Das Käppele ist nicht nur ein Bauwerk, sondern ein lebendiger Zeuge der Geschichten und Hoffnungen der Menschen. Ein Ort, hoch über den Dächern Würzburgs, der Mystik und Glaube vereint und allen, die ihn besuchen, ein Stück von seinem Zauber mit auf den Weg gibt. Der Weg zurück in die Stadt führt über die vielen Treppen hinunter. Zeit, um Eindrücke sacken zu lassen, bevor der Trubel des Alltags zurückkehrt.
Der Text ist im Rahmen des Reportage-Projekts „Christliches Leben in Würzburg“ des Tagespost-Nachwuchsprogramms entstanden.
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