Der Tau bedeckt noch die Wiese, auf der unsere Zelte stehen. Es ist kurz vor sechs am Morgen. Auf dem Gaskocher beginnt das Wasser in dem 30-Liter-Topf langsam zu köcheln. Das „Aufweckteam“ breitet eine große Plane auf dem nassen Gras aus – für das Frühstück. Die drei Teammitglieder rütteln dann systematisch an unseren Zelten und rufen: „Aufstehen, in einer Viertelstunde ist Laudes.“ Heute ist Tag drei unserer „Wandaexerzitien“. Gestern sind wir 15 jungen Menschen und unser Priester Abbé Phil um die 20 Kilometer gewandert. Wie viele es heute werden – das weiß nur das „Kartenteam“. Nach und nach kriechen alle aus ihren Zelten, putzen sich am Waldrand mit Zahnbürste und Wasser aus der Trinkflasche die Zähne. Um 6.15 Uhr stellen wir uns in einem Halbkreis auf, mit Blick auf die Schweizer Berge. „Oh Gott, komm mir zu Hilfe“, eröffnet nun Abbé Phil die Laudes. „Herr, eile mir zu helfen“, stimmen wir Pilger ein.
„Wanda“, das ist eine private Initiative, gerichtet an junge Menschen im deutschsprachigen Gebiet, die Gott suchen. Die Idee entstand aus dem Film „Karol“ über den heiligen Papst Johannes Paul II., der seine Ferien gerne mit jungen Katholiken in der Natur verbrachte. So etwas wollte eine Gruppe deutscher katholischer Studenten auch erleben. Sie bat einen Priester, mitzukommen. Das war 2013. Von Jahr zu Jahr wuchs die Gruppe, in der Covid-Pandemie teilte man sie in Kleingruppen auf; seitdem pilgern jährlich mehrere „Wandas“ durch Europa. Der Name „Wanda“ entstand aus pragmatischem Grund: „Wanderexerzitien“ war als Name in der E-Mail-Adresse schon vergeben, darum wurde das „er“ kurzerhand zu „a“. Es gab schon „Wandas“ nach Assisi, im Schwarzwald, nach Medjugorje und zur Klosterinsel „Mont-Saint-Michel“ in Frankreich. Die Priester kommen von der Gemeinschaft Sankt Martin, aus dem Kloster Heiligenkreuz, von den Brüdern Samariter FLUHM oder aus deutschsprachigen Diözesen. Auch Pater Leo Maasburg, der langjährige Begleiter von Mutter Teresa, lief schon mit.
Wer körperlich viel gibt, ist geistig aufnahmefähiger
Die Exerzitien sind stets ähnlich aufgebaut: tägliche heilige Messe, Rosenkranz, eucharistische Anbetung, vormittags und nachmittags ein geistlicher Impuls und natürlich wandern, wandern, wandern. Denn wer körperlich viel gibt, der ist geistig aufnahmefähiger, formulierte es einmal Ferdinand von Degenfeld, einer der Initiatoren von „Wanda“. Ein VW-Bus fährt die Zelte von Ort zu Ort, besser gesagt: von Wiese zu Wiese. Duschen und Wäschewaschen kann man in Seen und Flüssen. Eine der Übungen der neuntägigen Exerzitien: sich ganz auf Gottes Vorsehung verlassen.
Für meine Gruppe ging es in diesem Sommer durch die Schweiz bis hin zur kleinen Liechtensteiner Wallfahrtskirche „Maria zum Trost“, die 1985 der heilige Papst Johannes Paul II. besuchte. Die Schweizer Natur – wie in einem Heidi-Film: grüne Wiesen am türkisblauen Rhein, links und rechts die mit Bäumen bewachsenen Berge, auf denen graue Milchkühe mit scheppernden Glocken am Hals in der Sonne liegen. An jeder zweiten Straßenkreuzung fließt kaltes Bergwasser aus einem steinernen Trinkbrunnen. Und dazwischen die filmreifen Bergdörfer mit nussbraunen Holzhütten, weißen Fachwerkhäusern und einer kleinen Pfarrkirche. Vor den rot-weißen Fensterläden hängen Geranien, neben der Haustür steht eine Holzbank, als Klingel dient eine Glocke, an deren Schnur man ziehen muss. Hier lässt es sich wandern!
Vatikanflagge mit Wanderschuh
Um 7.30 Uhr laufen wir los, manche mit vom Tau durchnässten Wanderstiefeln. Vorne die „Vorhut“ mit den Wanderkarten, hinten bilden zwei Personen die „Nachhut“, damit niemand zurückbleibt. In der Mitte trägt ein Junge die „Wanda-Fahne“: gelb-weiß, wie die des Vatikans. Nur, dass auf unserer weißen Hälfte ein dicker Wanderschuh prangt.
Nach der Messe und dem mittäglichen Picknick ist 15 Minuten Pause. Kurze Nächte, lange Wege und von morgens bis abends in einer Gruppe sein, macht müde. Und froh. Immer Humor haben und geduldig sein, das ist eine der Regeln bei „Wanda“. Dann geht es weiter, den Rhein entlang. Nach fünf Kilometern ist „Impuls und Kekspause“ – also „Keksimpuls“, wie neben mir jemand behauptet. Es geht um die Hoffnungslosigkeit, die Pandemie unserer Zeit. Wir zücken unsere Notizheftchen und Stifte – je kleiner und leichter sie sind, desto besser. Nachdem wir ein Ave Maria gebetet haben, beginnt Abbé Phil den Vortrag. Reizüberflutungen und der Druck zur Selbstoptimierung, ohne ein Ziel zu haben – das raubt vielen Menschen die Hoffnung. Ebenso die Versuchung, so zu leben, als ob Gott nicht existierte, und sich selbst retten zu wollen. Doch die gute Nachricht: Unsere Hoffnung richtet sich auf ein „Wen“ und nicht auf ein „Was“. Sie richtet sich auf Gott. Gott hat einen jeden von uns ins Leben und an einen bestimmten Platz gerufen.
Der Übernachtungsort, von Gott geschenkt
Ein Gewitter zieht auf. Dann die Nachricht vom Kartenteam im „Gruppenhandy“. Unsere persönlichen Handys haben wir in dieser Woche nicht dabei. Die Nachtunterkunft ist gefunden; „nur“ acht Kilometer entfernt! Abends um sieben kommen wir bei unserem Gastgeber an, einem älteren Pfarrer. Wenig später essen wir auf unserer Plane unter seinem Feigenbaum zu Abend. Er sitzt auf einem kleinen Stuhl zwischen uns – sichtlich erfreut über die Gegenwart junger Gläubiger. Wir spüren: Diesen Übernachtungsort hat Gott uns geschenkt. Die Komplet singen wir alle zusammen in seiner Pfarrkirche. Das dreckige Geschirr in zwei Waschzubern dürfen wir in seiner Küche waschen; nicht wie sonst mit Brunnenwasser aus Kanistern. Und obwohl seine Küche und sein Wohnzimmer schnell vom lachenden und redenden Spülteam überfüllt sind und sich auf dem Boden Schmutzspuren von 15 Paar Wanderstiefeln zeigen, wirkt der Pfarrer glücklich.
Nach drei weiteren Tagen erreichen wir unser Ziel in Liechtenstein. Auf dem Weg beschenkt uns Gott weiter mit kleinen Überraschungen: Zwei von uns beten – eigentlich aus Spaß, vielleicht aus Übermüdung – für einen Schokoladenkuchen mit Glasur, der am selben Abend tatsächlich auf wundersame Weise eintrifft.
Einmal übernachten wir in einer originalgetreuen hölzernen „Westernstadt“, zwischen Blechdosen, Gewehren und einem Schießstand. Und dann, am Freitagmorgen, liegt dort das Örtchen Dux mit seiner kleinen weißen Marienkapelle. Und hinter uns liegen 120 Kilometer Fußmarsch! Die Stimmung ist ausgelassen, wir singen laut und andächtig „Ressuscitou“. Vor der großen Statue der Gottesmutter knien wir nieder, um noch einmal die Anliegen zu wiederholen, die wir die ganze Zeit über mitgetragen haben. Und um zu danken. Für die Wallfahrt mit all ihren kleinen Wundern, die neu entstandenen Freundschaften, die geschenkte Hoffnung – und für unser Leben, das eine große Wallfahrt zum Himmel ist.
Information und Anmeldung: wandaexerzitien.com
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