Eine eigenartige Angst geht um unter deutschen Theologen und Bischöfen: die Angst vor der Wahrheit. Exemplarisch für diese Tendenz steht etwa Julia Knop, Dogmatikprofessorin an der Universität Erfurt. Sie warnte einst in einem Interview davor, die Lehren der Kirche als „ewige Wahrheiten“ zu verstehen. Die Wahrheit – als unveränderliche – ist freilich ein Stein, der sich nicht wälzen lässt. Wem es also darum geht, möglichst anpassungsfähig zu sein an die wechselnden ideologischen oder politischen Trends, für den sind ewige Wahrheiten ein zu beseitigendes Hindernis.
Einen besonders schweren Stand bei den akademischen Verächtern der Wahrheit hat die katholische Lehre vom Naturrecht. Mit der Dauerfloskel von den angeblich „neuen Erkenntnissen der Humanwissenschaften“ soll nicht mehr gelten, was die Kirche zum Thema Leib und Sexualität im Einklang mit dem Naturrecht immer gelehrt hat. Allein die These, dass es ein unveränderliches Wesen, eine gleichbleibende Natur des Menschen gibt, dürfte heute nicht nur in der Theologie, sondern an den meisten geisteswissenschaftlichen Instituten als anrüchig, wenn nicht gar als skandalös gelten.
Das Rationalitätsvakuum wird gefüllt mit Betroffenheitsgesten
Diese Entwicklung ist nicht nur aus rein akademischer Sicht besorgniserregend. Denn die wahrheitsfeindlichen Haltungen und Einstellungen schwappen zusammen mit den Absolventen aus den Seminaren in die breite Gesellschaft, und damit eben auch in die Kirche, über. Wo aber die Idee einer unveränderlichen Wahrheit aufgegeben wird, da löst sich der vernünftige Diskurs auf. Das Rationalitätsvakuum wird gefüllt mit Betroffenheitsgesten.
Man erinnere sich nur an eine Szene aus dem September 2022: Als bei der vierten Synodalversammlung der Text „Leben in gelingenden Beziehungen – Wegmarken einer erneuerten Sexualethik“ aufgrund einer fehlenden bischöflichen Zweidrittelmehrheit durchfällt, greifen einige enttäuschte Laien-Reformer zu einer hochgradig peinlichen Opferinszenierung und zeigen unter anderem ein selbstgemaltes Transparent mit der Aufschrift „Kein Raum für Menschenfeindlichkeit“. Ein solches Verhalten ist kein Zufall, sondern eine logische Konsequenz einer längeren Entwicklung, bei der die Wahrheit als die zentrale Instanz des Diskurses systematisch abgeräumt worden ist.
Trend zur Wahrheitsleugnung
Dieser Trend zur Wahrheitsverleugnung hat sich derart ausgebreitet, dass neulich selbst von einem sonst so frommen Gottesmann wie Bischof Bertram Meier der Satz zu hören war: „Keine Kirche hat die Wahrheit für sich gepachtet.“ Diese Worte fielen beim 40. Ökumenischen Bischofstreffen der Fokolare-Bewegung im Februar dieses Jahres und dürften daher wohl als gut gemeinte ökumenische Geste zu deuten sein. Insofern Kirchenvertreter und Gläubige endliche Wesen sind, sind sie freilich auch fehlbar. Die katholische Kirche ist aber nicht nur eine irdische, sondern vor allem auch eine göttliche Institution: Sie ist schließlich die Gründung des Gottessohnes, der fleischgewordenen Wahrheit höchstpersönlich. Und so wie Jesus Christus von sich selbst lehrte, dass er „der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6) ist, so lehrt auch seine Kirche von sich, dass sie „zum Heile notwendig sei“, wie es im Dokument „Lumen Gentium“ (Nr. 14) des Zweiten Vatikanischen Konzils heißt.
Will die Theologie wieder diskursfähig werden, muss sie sich von der zersetzenden Selbstrelativierung frei machen für die Wahrheit als Absolutum. Nur dann kann es wieder rationale und sinnvolle theologische Auseinandersetzungen geben. Und nur dann ist es auch wieder möglich, den Menschen die Heilsbotschaft Christi zu verkünden, die nichts anderes ist als die Heilsbotschaft der Wahrheit selbst.
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