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Beruhigende Lösungen hatte Dürrenmatt nicht

Zum 100. Geburtstag des schweizerischen Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt ist eine umfassende neue Biographie des Multitalents erschienen. Nach Meinung der Rezensentin die bisher umfangreichste, tief ins Detail gehende und verständlichste Darstellung des Lebens und Werkes des Künstlers, die bisher erschienen ist.
2020 wäre Friedrich Dürrenmatt 100 Jahre alt geworden.
Foto: UN | In seinen Stücken erheben sich Menschen über andere und urteilen jenseits des geltenden Rechts: 2020 wäre Friedrich Dürrenmatt 100 Jahre alt geworden.

Der Meteor, eine leuchtende und zugleich flüchtige Erscheinung am Himmel, die jedoch beim Einschlag auf die Erde eine bleibende Spur hinterlässt – dieses Bild fand der Schweizer Friedrich Dürrenmatt (1921 –1990) für den Schriftsteller, dessen Zunft er ja auch angehörte, neben der des Dramatikers und des Malers. Und so heißt auch ein Theaterstück des Autors aus dem Jahr 1966 um den immer wieder auferstehenden Maler Schwitter, der nicht sterben kann.

Aus Dürrenmatt wäre auch ein guter Naturwissenschaftler geworden, mit profunden Kenntnissen der Mathematik, der Astronomie, der Kosmologie und der Physik. Oder ein streitbarer protestantischer Theologe oder ein politisch eigenständig denkender Philosoph. Alle diese Fähigkeiten vereinten (und widersprachen) sich in dem 1921 im Emmental geborenen Pfarrerssohn, der 1956 mit dem bis heute weltweit gespielten Theaterstück „Der Besuch der alten Dame“ zu Ruhm und Ehren kam.

Die komplexe Persönlichkeit Dürrenmatts ersteht

Der Schweizer Literaturwissenschaftler Ulrich Weber, der 1961 geborene Kurator des Dürrenmatt-Nachlasses im Schweizer Literaturarchiv, ist dem Autor nicht mehr persönlich begegnet. Die jahrelange Annäherung an einen der „faszinierendsten Autoren des 20. Jahrhunderts“ entwickelte sich zunächst durch seine Forschungsarbeit im von Dürrenmatt noch kurz vor seinem Tod begründeten Schweizer Literaturarchiv.

Hier sichtete und katalogisierte er von reichem Brief-, Text- und Fotomaterial, basierend auf dem gigantischen autobiographischen Dürrenmatt-Projekt, Stoffe (die fünfbändige Gesamtausgabe erscheint am 28.4.2021 im Diogenes Verlag), genährt und erweitert in zahlreichen Gesprächen mit Angehörigen, Freunden, Weggefährten – und Feinden. Ein Unterfangen derartiger Größenordnung birgt die Gefahr einer trockenen wissenschaftlichen Faktensammlung. Ulrich Weber hat hingegen das Kunststück vollbracht, aus sorgfältig belegten biographischen Tatsachen in Verbindung mit den literarischen Texten die komplexe Persönlichkeit Dürrenmatts auf eine bisher unbekannte Weise wiedererstehen zu lassen.

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Auf über 700 Seiten begegnet uns tatsächlich einer der „faszinierendsten Autoren des 20. Jahrhunderts“, umfassend gebildet und interessiert, Ehemann und dreifacher Vater, ein Genießer des Lebens mit all seinen Facetten, trotz schwerer Diabetes und vieler weiterer Krankheiten dem reichlichen Essen und Trinken zugetan. Ein besessener und disziplinierter Arbeiter, ein Erzählgenie, der sowohl spannende Kriminalgeschichten verfasste, die um die Kernthemen Moral und Recht kreisen und den Leser ohne beruhigende Lösung zurücklassen („Der Richter und sein Henker“, „Der Verdacht“), als auch hintergründige, häufig von schwarzem Humor beseelte Dramen („Der Besuch der alten Dame“, „Die Physiker“) zu einem virtuosen, ganz eigenen Welttheater zu kreieren verstand.

Wobei sich aus dem schriftstellerischen, dramatischen und auch zeichnerischem künstlerischen Werk ein Grundthema herauskristallisiert: das von Schuld und Sühne. Dass die vom Krieg verschonte Schweiz bis heute ein diffuses Schuldgefühl empfindet, eben weil sie verschont blieb, mag eine Rolle gespielt haben, als Dürrenmatt Ende der 40er Jahre begann, seine Dramen zu verfassen.

„In allen Stücken erheben sich Menschen über andere,
um jenseits des geltenden Rechts über sie zu urteilen“

Der protestantisch aufgewachsene Pfarrerssohn opponiert früh gegen den Glauben und damit gegen den pietistischen Vater, und wird doch sein ganzes Leben hindurch sowohl verfolgt als auch getragen vom Glauben seiner Kindheit. Kein Theaterstück, kein Text, kein Bild, in dem nicht christliche Motive vorkämen. Ausführliche Auseinandersetzung mit religiösen Themen und Vertretern prägt Leben und Werk, immer wieder greift er auf die Bibellektüre zurück, insbesondere auf die Paulusbriefe. Auch Kierkegaard und sein existenzphilosophischer Weg zur Wahrheit beeinflusst ihn stark.

1948 besucht Dürrenmatt den Theologen Karl Barth, der sein erstes Stück „Der Blinde“ gesehen hatte und tief beeindruckt in dem Nachkriegsstück ein Abbild seiner eigenen „dialektischen Theologie“ zu erkennen meinte. In den 60er Jahren studiert Dürrenmatt Barths Kirchliche Dogmatik und schreibt später, Barth habe ihn zum Atheisten erzogen. Auch der katholische Theologe Hans Urs von Balthasar war 1948 ein Gesprächspartner des jungen Dramatikers, der sich damals aber doch als Protestant begreift: „Meine Position lässt sich durch zwei Punkte wiedergeben: Durch meine Gewissheit, dass es nur eine christliche Kirche gibt, und durch die Tatsache, dass ich Protestant bin. Ich weiß, dass diese Angabe eine widersinnige Position bezeichnet, aber ich glaube doch, dass sie eine christliche Position ist – an der nicht nur ich leide...“

Dem „Kosmos Dürrenmatt“ nahe kommen

Dennoch: Die göttliche Instanz spielt keine Rolle in seinen Texten, auch wenn diese sich letztlich um Schuld, Moral und Recht drehen. Kommissar Bärlach in „Der Richter und sein Henker“, Claire Zachanassian in „Der Besuch der alten Dame“, Alfredo Traps in „Die Panne“ – in allen Stücken erheben sich Menschen über andere, um jenseits des geltenden Rechts über sie zu urteilen. Es geht dabei um die Frage nach dem Verhältnis von moralischer und rechtlicher Schuld, Gott verschwindet als Bezugsgröße aus dem Blickfeld.

Ulrich Weber verschränkt Leben und Werk in sechs chronologischen Abschnitten und kommt dem „Kosmos Dürrenmatt“ dabei so nahe, wie es einem Nachgeborenen nur möglich ist. Sachlich wird erzählt, nichts ausgelassen – Freundschaften, manche lebenslang, Hasslieben, wie zu Max Frisch, Frauenbeziehungen – die frühe Ehe mit Lotti, die trotz mancher Bewährungsproben und Krisen bis zu Lottis Tod 1983 hielt, die zweite Ehe mit der dominanten Schauspielerin und Filmemacherin Charlotte Kerr 1984–1990. Sein öffentlicher Einsatz für Israel, auch als dies nicht opportun war. Irrtümer und Fehlentscheidungen, Verletzungen – erlittene und anderen zugefügte. Die Liebe zum Theater, die nicht immer erwidert wurde. Die politischen Phasen. Die Krankheiten. Die naturwissenschaftlichen Exkursionen, so ins Planetarium in Los Angeles und zu „CERN“, der Europäische Organisation für Kernforschung nahe Genf, aber: bei aller Begeisterung für physikalische und kosmologische Phänomene gab es immer den Zweifel an „wissenschaftlich erwiesenen Wahrheiten“.

Bedurfte es einer weiteren Biographie? Ja!

Ergänzt wird das umfangreiche Werk durch einen Stammbaum und einen ausführlichen Lebenslauf, zahlreiche Fotos und detaillierte Anmerkungen. Und die Frage, ob es einer weiteren Biographie zu Friedrich Dürrenmatts Leben und Werk bedurft hätte, kann klar mit Ja beantwortet werden – so verständlich wie hier sind Leben und Werk dieses bedeutenden Künstlers bisher noch nicht dargestellt worden.

Am 5. Januar 2021 wäre Friedrich Dürrenmatt 100 Jahre alt geworden.


Ulrich Weber: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie. Diogenes Verlag Zürich 2020, 752 Seiten, ISBN-13: 978-325707-100-9, EUR 28,–

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