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Vom Risiko zu früher Fremdbetreuung

Über die Irrwege der aktuellen Familienpolitik.
Happy family: mother, father, children son and daughter on sunset
Foto: Evgeny Atamanenko (212673990) | Eine glückliche Familie im Sonnenuntergang

Die Entwicklung einer sicheren Bindung zwischen Eltern und Kind ist eine großartige Grundlage für eine gesunde körperliche, psychische und soziale Entwicklung des Kindes. Wir sollten daher alle Anstrengungen unternehmen, Eltern und Kinder in ihren ganz frühen Entwicklungsphasen so gut zu unterstützen, dass dieser wichtige Entwicklungsschritt bestmöglichst gelingen kann.“ Obwohl sicher die allermeisten Eltern diesem Zitat des renommierten Bindungsforschers Karl Heinz Birsch zustimmen werden, ist die Gewährleistung einer sicheren Bindung für viele unserer allerkleinsten Bürger, die sogenannten U-3 Kinder, keineswegs selbstverständlich. Woran liegt das?

In einer zunehmend beschleunigten Welt, in der besonders Eltern mit Kindern unter einem besonderen Druck stehen, geht der Trend dahin, dass dem Kleinstkind immer seltener ein offenes Zeitfenster für seine individuelle Entwicklung zugestanden wird. Es hat bereits schon nach dem ersten Elterngeldjahr seinen eigenen Anspruch auf seine entwicklungsgemäße Entfaltung eingebüßt. Es wird – wie viele andere auch – mit dem ersten Tag seines zweiten Lebensjahres zum Kind, das von nun an den staatlichen Vorgaben von Bildung zu folgen hat. Bindung war gestern. Deshalb spricht das Bundesfamilienministerium nicht mehr von Krippe, sondern nur noch von Kindertagesstätte. Der Begriff Krippe meint die Betreuungseinrichtung für U3-Kinder, für die ein geringerer Betreuungsschlüssel vorgesehen ist, sowie ein eigenes pädagogisches Konzept, das auf Bindung hin angelegt ist. Nein, spätestens ab dem zweiten Lebensjahr ist es „aus“ mit dem idealen Bild der Familie als Keimzelle und Schonraum. Da beginnt nach dem Willen unserer Sozialingenieure die Welt der Gruppenbetreuung in einem der 55 000 Kindertagesstätten, kombiniert mit dem elterlichen Anspruch auf sieben Stunden Betreuung am Tag. Da wird ab sofort die Matrix der elterlichen „Werktätigen“ über den Alltag des Kindes gestülpt. Das Problematische dieser Entwicklung: Allenfalls zehn Prozent der Krippen erreichen das notwendige Qualitätsniveau für die Betreuung der Schutzbefohlenen. Um nicht missverstanden zu werden: Es geht nicht darum, Fremdbetreuung grundsätzlich zu verteufeln und veraltete Leitbilder wiederzubeleben. Es geht darum, Kleinstkinder vor folgenschwerer Überforderung zu schützen und damit die Gesellschaft in ihrem Kern zu stärken.

Wie kam es eigentlich zu diesem Paradigmenwechsel? Erinnern wir uns. 2005 trat Ursula von der Leyen das Amt der Familienministerin an mit dem ehrgeizigen Ziel, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch zwei Maßnahmen voranzutreiben. Zum einen durch die Einführung des Elterngeldes, das nach einem Jahr Inanspruchnahme zum Wiedereintritt der Mütter in die Erwerbstätigkeit führen soll. Zum anderen durch den Bau von Krippenplätzen, deren Zahl inzwischen von 250 000 auf über eine Million aufgestockt wurde. Inzwischen sind mehr als 50 Prozent der unter-Dreijährigen Krippenkinder. Gleichzeitig ist die Erwerbsquote von Müttern auf 67 Prozent gestiegen.

Mit diesen beiden Maßnahmen veränderte eine Familienministerin wie keine andere das Gesicht unserer Gesellschaft. Die von der demographischen Schieflage gebeutelte Wirtschaft profitiert von der Rekrutierung der Mütter als letzte Arbeitsreserve, die Mütter erwirtschaften sich ein bisher nie gekanntes Maß an Unabhängigkeit und der Sozialstaat feiert den Rekord von über 40 Millionen sozialversicherten Beschäftigten. Dies sind zweifellos große Errungenschaften.

Die hoch subventionierte Krippenbetreuung ist längst zum Königsweg einer neuen Generation geworden, allerdings ohne dass sich die Qualität der Einrichtungen spürbar verbessert hätte. Dennoch wird der gesetzlich verbriefte Betreuungsanspruch nach Maßgabe des neuen „Gute Kita-Gesetzes“ in wenigen Jahren die Zahl der Kitas auf 1,2 Millionen hochschnellen lassen. Und weil manchen Eltern eine Tagesbetreuung nicht ausreicht, gibt es inzwischen 24-Stunden-Krippen. Die Wahlfreiheit finden „alternative Eltern“, die ihre Kinder selbst erziehen wollen oder es sich leisten können, nur noch in Bayern (Familiengeld) und Sachsen (Betreuungsgeld).

Diese Entwicklung hat eine Kehrseite: Den Preis zahlen die Schwächsten, nämlich diejenigen, die am Anfang des Lebens stehen. Ihnen fehlt Liebe und Zuwendung, etwas, was der Staat nicht geben kann. Volle doppelte Erwerbstätigkeit führt beinahe zwangsläufig zum Bedeutungsverlust der Familien, ohne dass Kitas diesen Verlust kompensieren könnten. Mittlerweile ist der Stress zum ständigen Begleiter der Eltern, der Erzieherinnen und der Kleinstkinder geworden, während das Elternhaus zur Schlafstätte verkommt. Die Zahlen verhaltensauffälliger Jugendlicher und Studienabbrecher nehmen sprunghaft zu.

Trotz dieser massiven Nebenwirkungen wird Kitabetreuung exzessiv ausgebaut, das heißt die Halbtagsbetreuung wird verlängert, die Elternzeit verkürzt. Und dieser Weg wird durch die Ganztags-Grundschule bis hin ins Gymnasium fortgesetzt. Als familienfreundlich gilt heute offenbar das, was Familie ersetzt. Heute heißen die Attribute des Fortschritts: ganztägig, kollektiv, beitragsfrei und alternativlos, ganz analog zur zunehmenden vollen doppelten Erwerbstätigkeit der Eltern.

Die katholische Kirche als der größte private Träger von Betreuung wird angesichts wachsender Nachfrage nach Kitaplätzen nachdenken müssen, wie sie bei grassierendem Fachkräftemangel und zurückgehenden Einnahmen ihr hohes Anspruchsniveau wird halten können. Hier sind neue Konzepte gefragt.

Es gibt erfreuliche Alternativen zum gängigen Betreuungsmodell von jungen Eltern, die sowohl dem Kindeswohl als auch den Bedingungen einer modernen, das heißt gleichberechtigten, Arbeitswelt gerecht werden. Die Stiftung für Familienwerte und ihre Partner haben sich Gedanken darüber gemacht, worum es bei der „sicheren Bindung“ geht und was bei dessen Verlust auf dem Spiel steht. Es lohnt sich, weiterzulesen!

Karl-Heinz Bernhard van Lier, 1953 in Freiburg geboren, ist Philologe, verheiratet und hat fünf Kinder. Von 1986 bis 1992 war er als Auslandsmitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Dominikanischen Republik und Haiti und im Anschluss als Landesbeauftragter derselben Stiftung in Rheinland-Pfalz bis Ende 2018 tätig. In 26 Jahren seiner Stiftungsarbeit beschäftigte er sich mit Familienpolitik. Seit 2019 ist er Geschäftsführer der Stiftung für Familienwerte. Im Oktober 2018 erschien sein Kompendium (Herder-Verlag) „Ohne Familie ist kein Staat zu machen“.
 
Von Karl-Heinz Bernhard van Lier
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