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Erscheinung im Wort

Interviews und Dialoge: Ernst Jüngers "Gespräche im Weltstaat 1929-1997".
Spaziergang im Wald bei atemberaubender Lichtstimmung im Nebel
Foto: Adobe Stock | Für die Figur des Waldgängers bei Ernst Jünger gibt es in der geistigen Freiheit auch das Spirituelle.

Offenbar ist heute die Fähigkeit geschwunden, ein Gespräch dem Sinne nach wiederzugeben, also in seiner eigentlichen Realität. Zu ihr gehören die Stimmung, das Schweigen, die Aura und die gegenseitige Achtung der sich in Frage und Antwort Begegnenden.“ So bilanzierte Ernst Jünger bereits in „Siebzig verweht“ den Niedergang des Gesprächs – oder zumindest sein Empfinden.

Der vorliegende Gesprächsband bilanziert die Schaffensgeschichte und lässt mit Jünger auf sein Werk zurückschauen. Gleichsam testamentarisch lässt sich so auf das 20. Jahrhundert und seinen literarischen Chronisten zurückblicken und die großen geistigen Linien und Brüche dialogisch nachvollziehen. Mit dem Titel „Gespräche im Weltstaat“ ist sogleich die Mitte des Terrains umrissen, nämlich mit seinem Essay „Der Weltstaat. Organismus und Organisation“, mit dem Jünger seine Gedanken, die er seit dem 1. Weltkrieg in auch anthropologischer Hinsicht in „Der Arbeiter“, in der Friedensschrift, in „Der Waldgänger“ oder auch „Eumeswil“ entwickelte.

Der „Arbeiter“ als neuer titanischer Menschentypos

Ernst Jüngers Exklusivität, die in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg als Elitismus mit Argwohn betrachtet wurde, ist im europäischen Ausland mit weit weniger Skepsis aufgenommen worden, wie vor allem die lange Reihe französischer Gesprächspartner zeigt, die mit Maurice Martin du Gard, Jean Duché, Jean-Louis de Rambures und vor allem Julie Hervier in diesem Band Aufnahme gefunden haben. Gegenüber dem Franzosen Frédéric de Towarnicki, der mit drei Interviews vertreten ist, fasst Jünger seinen genuinen Zugang so zusammen: „Genaugenommen habe ich versucht, die Erscheinung von Dingen zu beschreiben, denen ich letztlich mit wenigem Widerwillen begegnete. Einmal erkannt, muss man diese Erscheinungen aber in Worte fassen.“

In seiner Jugend wandte sich Jünger zunächst den Gestalten des Kriegers und Soldaten zu, man denke an das Kriegstagebuch 1914-18 und Stahlgewitter. In der Zwischenkriegszeit tritt ihm das Erscheinen des „Arbeiters“ als neuem planetarischen Menschentypos vor Augen, den das Zeitalter der Technik und ihre Möglichkeiten der Machtausübung hervorbringt. Dagegen schlägt Jünger mit dem Waldgänger und dem Anarchen Lebensbilder vor, die angesichts der Macht der Technik die innere Freiheit des Menschen zu wahren vermögen. Jünger sieht den Soldaten bereits vom Techniker abgelöst, und mit ihm auch der Krieg, in dem individuelles Handeln und Heldentum gefragt sind.

Dem gegenüber sieht er im Anarchen und im Waldgänger Typen, die die Freiheit zu bewahren wissen. Der Anarch, weil er die Gesellschaft aus seinem Leben zu verbannen weiß, in dem er die Legitimität ihrer Macht („Mir geht nichts über mich“) nicht anerkennt, der Waldgänger, indem er das Heil und den Kampf sucht und sich jeder Form des Automatismus entzieht.

Hier tut sich eine geistige Freiheit auf, in der auch das Spirituelle seinen Rang behält, wenn Jünger ansonsten resümiert: „Überall sind Gott oder die Götter auf dem Rückzug.“

Anarch und Waldgang – „Mir geht nichts über mich“

Die Jünger eigene Terminologie und Stilistik geben auch diesem Gesprächsband ein aristokratisches Gepräge. Einerseits synthetisiert Jünger Phänomene, Gedankengänge, Epochen, andererseits oszillieren seine Gedankengänge zwischen Polen. Ästhetische Wahrnehmung und geistige Erfahrung verschmelzen zu einem Kontinuum, in dem Widersprüche aufgelöst werden.

Der reiche Schatz von Wendungen und sprachlicher Raffinesse, das Zusammenspiel von Biographie, Geschichte und literarischem Zeugnis machen die Lektüre lebendig,

Es sind aber auch die anthropologischen und zuweilen geistlichen Fragestellungen Jüngers, der im hohen Alter zum Katholizismus konvertierte, die ihn auch theologisch interessant machen. Seine Beobachtungen des Materiellen und Mystischen, die sprachlich ungeheuer verdichtet und vernetzt zu Bildern werden, fehlt zugleich nicht die Klarheit, ihn als Chronisten der geistigen Situation des Menschen als Referenz kennenzulernen.

Der nun von Rainer Barbey und Thomas Petraschka vorliegende Band „Gespräche im Weltstaat“ mit Interviews und Dialogen gibt auch hierfür einen authentischen Einblick in das Lebenswerk Ernst Jüngers, in bilanzierender Dichte von 1929 bis 1997. Insgesamt werden 43 Gespräche in einem umfangreichen Band von fast 600 Seiten präsentiert. Die Sammlung ist gleichermaßen für den Kenner des jüngerschen Werkes von Interesse wie für den weniger erfahrenen Leser, der den ästhetischen Chronisten der Geschichte des 20. Jahrhunderts kennenlernen möchte.

Ernst Jünger: Gespräche im Weltstaat: Interviews und Dialoge 1929–1997.
Klett-Cotta Verlag 2019, 575 Seiten, ISBN-13: 978-360896-126-3, EUR 45,–

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