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Die christliche Alternative

Hildegard von Bingen im Gespräch mit der Esoterik.
Relief des Hildegardisaltars in der Binger Rochuskapelle
Foto: Harald Oppitz (KNA) | 900 Jahre Hildegard von Bingen Ausstellung "Hildegard von Bingen 1098-1179" im Di?zesanmuseum in Mainz.

Lässt man den Blick durch die Regale verschiedener Buchhandlungen schweifen, zeigt sich, dass das Angebot aus dem Bereich der Esoterik umfangreicher und aktueller ist als christliche Literatur unter der Kategorie „Religion“. Es befindet sich – als ob es geradewegs zusammengehöre – meist in direkter Nachbarschaft. Auch mit Blick auf esoterische Angebote und boomende Nachfrage stellt sich die Frage: Welches Verhältnis haben Esoterik und christlicher Glaube zueinander? Hat das Christentum nicht selbst Antwortmöglichkeiten und praktische Wege, die die spürbare Sehnsucht der Zeitgenossen bedienen könnten?

Diesen und weiteren Fragen gehen die Theologin Barbara Stühlmeyer und der emeritierte Erzbischof Karl Braun auf den Grund. In ihrem Buch eröffnen sie ein Gespräch zwischen Esoterik und der Mystikerin und Kirchenlehrerin Hildegard von Bingen. Die Wahl des christlichen Gesprächspartners erscheint nicht nur plausibel, da Stühlmeyer ausgewiesene Hildegardkennerin ist, sondern auch deshalb, weil gerade im esoterischen Segment die christliche Ordensfrau immer wieder als Leumund und Quelle herangezogen wird.

Verhältnis Esoterik zum christlichen Glauben

Im ersten Kapitel verschaffen die Autoren dem Leser einen Überblick über gängige und gefragte esoterische Angebote. Von Amuletten über Hypnose und Reinkarnation bis zu Yoga wird genau vorgestellt und kritisch befragt. Deutlich wird dabei – so die Autoren –, dass die meisten Nutznießer dieser esoterischen Praktiken aufgrund des erfahrenen Wohlgefühls esoterische Praktiken ausüben und im Kern gar nicht wissen, welche religiösen und spiritualistischen Konzepte ferner Kulturen im Hintergrund stehen. Die polemisch klingende und immer wieder im ersten Kapitel gestellte Frage „Ist das katholisch oder kann das weg?“ wird jedoch bei genauer Lektüre nicht beantwortet, sondern dem Leser zur eigenen und selbstständigen Reflexion gestellt. Referenz dabei ist stets die heilige Hildegard. Diese Vorgehensweise trägt zu einem angenehmen Narrativ bei, das eben nicht apodiktisch, sondern moderierend – ohne natürlich klare Tendenzen und Positionierungen zu verbergen – durch das Buch führt.

Im zweiten Kapitel eröffnen Stühlmeyer und Braun dann die vielfältigen Schätze der eigenen religiösen Tradition. Statt Heilkuren Fastenzeit, statt Ahnenbefragung die Vorbildfunktion der Heiligen, statt fernöstliche Meditationsformen das Rosenkranzgebet. Das zweite Kapitel gibt einen gelungenen Überblick über den Schatz der christlichen Spiritualität, der eben keine reine Wortreligion ist, sondern auch die Geschichte hindurch – im wahrsten Sinne des Wortes – praktische Ausdrucksformen des Glaubens gesucht hat. Ein Schatz, den es zu heben und wieder neu zu entdecken gilt.

Gesellschaftliche Trends ohne polemische Tendenzen

Es bleibt zu wünschen, dass die behandelte Thematik auch wissenschaftlich rezipiert wird. Angesichts der Popularität solcher esoterischen Praktiken in der Gesellschaft kann die Theologie, besonders die Liturgiewissenschaft, nicht schweigen. Den beiden Autoren ist eine sehr gute Darstellung gelungen.

Darüber hinaus ist positiv festzuhalten, dass ohne polemische Tendenzen gesellschaftliche Trends beschrieben werden und auf Alternativformen christlicher Spiritualität und kirchlicher Frömmigkeit rekurriert wird. Ein Blick in die Geschichte macht deutlich, dass Kirche und christlicher Glaube Sehnsüchte und Nachfragen der Menschen im 21. Jahrhundert problemlos bedienen könnte. Ohne Pendel, Steine und Nervenkekse vermag der christliche Glaube auf eine jenseitige Welt zu verweisen, in der dann alle Sehnsüchte, Hoffnungen und Wünsche erfüllt werden.

Barbara Stühlmeyer, Karl Braun: Pendel, Steine, Nervenkekse. Esoterik im Gespräch mit Hildegard von Bingen. Butzon & Bercker, Kevelaer 2019, ISBN 9783766626011, EUR 18,–

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