Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Russland und das Baltikum

Die rationale Angst vor Putin

Zwischen Russland und dem Baltikum hat sich ein neuer Eiserner Vorhang breitgemacht.
Estlands Regierungschefin Kaja Kallas und der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal
Foto: IMAGO/Tairo Lutter (www.imago-images.de) | Betont herzlich begrüßte Estlands Regierungschefin Kaja Kallas Anfang April den ukrainischen Ministerpräsidenten Denys Schmyhal in Tallinn.

Der legendäre estnische Staatspräsident Lennart Meri warnte 1994 bei einem Festmahl in Hamburg vor russischen Großmacht-Fantasien. Im Saal wurde der Vizebürgermeister von Sankt Petersburg ausfallend: Er warf seine Serviette auf die Festtafel und marschierte „mit durchgedrückten Knien aus dem Saal, jeder Schritt begleitet vom Knarzen des Parketts“, wie es eine Augenzeugin schilderte. Sein Name: Wladimir Putin.

Erst jüngst erinnerte die liberale estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas, Tochter des ehemaligen Ministerpräsidenten und EU-Kommissars Siim Kallas, an diese Begegnung. Sie, die mittlerweile auf der Fahndungsliste Moskaus steht, appelliert immer wieder, die Ukraine bestmöglichst und mit allen militärischen Mitteln zu unterstützen, Russland auf sein Gebiet zurückzudrängen.

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In den drei baltischen Staaten Estland Lettland und Litauen ist das Unverständnis über den Westen groß. Nach dem russischen Einmarsch auf die Krim 2014 fühlte man sich ungehört, nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine war das Entsetzen über das deutsche Zaudern von Bundeskanzler Olaf Scholz groß. Die Nachwehen des ehemaligen deutschen Kanzlers Gerhard Schröder und seiner Russland-Lobby mit der persönlichen Freundschaft zu Wladimir Putin wirken ebenfalls nach.

Das Heft des Handelns selbst übernommen

Auch nach dem Einmarsch auf der Krim taten zahlreiche deutsche Delegationen die Angst vor Russland als historisch bedingtes Trauma ab. Das galt übrigens nicht nur für die Sozialdemokratie, sondern auch für die Unionsparteien. Wer sich auf Deutschland und die Führungsrolle der EU verlässt, ist verlassen, wurde zum Credo.

Also haben die baltischen Staaten, die sich historisch und aktuell bedroht fühlen, das Heft des Handelns selbst übernommen. Um sich vor möglichen Angriffen aus Russland schützen zu können, planen die drei baltischen Staaten, ihre Grenzen zu Russland und zu Belarus in den kommenden Jahren mit Verteidigungsanlagen zu sichern. Die Verteidigungsminister der drei NATO-Länder teilten unlängst mit, geplant seien mehrere hundert Bunker sowie Versorgungslinien.

Gerade in Lettland und Estland ist die Angst groß, befindet sich hier ja eine starke russische Minderheit. Im estnischen Narva trennen sich nun die Zivilisationen: In der estnischen 50.000-Einwohner-Stadt, die fast ausschließlich von Russischsprachigen bewohnt ist, wehen die NATO- und die EU-Flagge auf der einen Seite, doch jenseits des Grenzflusses ist die russische Flagge in Sichtweite.

Nun gibt es Bemühungen, Denkmäler aus der Sowjetzeit umzubenennen oder vollständig zu eliminieren. In Lettland wurden auch unpolitische Straßen umbenannt, etwa eine Moskau-Straße. Wer unter 75 Jahre alt ist, nicht Lettisch kann und die russische Staatsbürgerschaft angenommen hat, muss um seine Aufenthaltserlaubnis bangen. Das Russische wird aus den Schulen verbannt. In Lettland leben 26 Prozent ethnische Russen.

Auch die Erinnerungen trennen Russen und Balten

Im November 2022 kam eine von der estnischen Regierung eingesetzte Arbeitsgruppe zum Ergebnis, dass es 322 sowjetische Denkmäler gibt. Über 50 wurden bereits entfernt, am prominentesten ist das Panzersymbol (T-34) von Narva, das an den Sieg über „Nazi-Deutschland“ erinnerte. Die Esten erinnert dieser Panzer an den Beginn der sowjetischen Besatzung, an ein historisches Trauma, viele Russen dagegen an das glorreiche Ende des Zweiten Weltkriegs.

Man muss wissen: 97 Prozent der Bewohner sind ethnische Russen, also russischsprachig, ein Drittel hat einen russischen Pass. Wladimir Putin ist wohl Dauergast auf den TV-Schirmen der Stadt. Das gilt nach wie vor, obwohl Estland den Zugang zu russischen Medien, gerade auch zu den sozialen Medien, nach Ausbruch des russischen Angriffskriegs limitierte.

Eine in Narva aufgewachsene ethnische Russin, die in Brüssel und Paris erfolgreich studierte und nun in München lebt, sich für den Studentenverband der Europäischen Volkspartei (EVP) in führenden Positionen engagierte, fühlt sich in ihrer Würde gekränkt und um ihre Kindheitserinnerungen beraubt. Sie postete dementsprechend ein Foto mit ihrer kleinen Tochter mit dem Panzersymbol in den sozialen Netzwerken.
Vor ein paar Jahren sagte man noch: In Narva, auf halbem Weg zwischen Sankt Petersburg (140 Kilometer östlich) und der Hauptstadt Tallinn (210 Kilometer westlich) fängt EU-Europa an. Spätestens seit dem 24. Februar 2022 hört Europa hier auf.

Ein neuer Eiserner Vorhang hat sich auf- oder besser breitgemacht. Es wird dunkel, um nicht zu sagen zappenduster. Damit ist nicht die Dunkelheit im Herbst oder Winter gemeint, die in den baltischen Staaten dann bereits am Nachmittag einsetzt.

Geschichte ist nicht trivial, sondern komplex

Geschichte ist nicht trivial, sondern komplex, wie der Fall Estlands zeigt: Die Priorität in der Vergangenheitsbewältigung liegt bei der Bedeutung der Deportationen von Esten in sowjetische Gulags zwischen 1941 und 1949: In der Nacht vom 14. auf den 15. Juni 1941 wurden etwa 10.000 Menschen nach Sibirien deportiert. Mehr als die Hälfte davon starb auf dem Weg dorthin oder kehrte später nicht aus den Lagern zurück. Bei einer weiteren Deportationswelle im März 1949 mussten 20.000 Esten unter Gewaltanwendung ihre Heimat verlassen.

Die erst nach der Unabhängigkeit aufgearbeitete Geschichte spielt in der Erinnerungskultur eine zentrale Rolle, denn verglichen mit den in den sowjetischen Gulags ermordeten Esten gibt es nur eine geringe Zahl an estnischen Holocaustopfern. Nach Schätzungen starben 1.500 bis 2.000 Menschen im Konzentrationslager Klooga unweit von Tallinn, fast alle waren sie Jüdinnen und Juden, die aus Lettland oder Litauen kamen. Damit nimmt Estland eine andere Perspektive ein als andere Länder. Im Jahr 2000 äußerte der damalige Bildungsminister Tõnis Lukas, ein keineswegs radikaler Politiker, der Holocaust sei nicht wichtig genug für Estland, um ihm jenseits des Lehrplans besondere Aufmerksamkeit zu zollen.

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Hier geht es auch um Destabilisierung: Der Finne Risto Teinonen, der 2002 die estnische Staatsbürgerschaft wegen seiner Verdienste bekam, musste diese auf Veranlassung des damaligen Staatspräsidenten Toomas Hendrik Ilves zurückgeben. Er trug zum Beispiel auf Fotos die nationalsozialistische Armbinde neben dem Verdienstorden, offensichtlich aus Gesinnung. 2015 bekam er ein fünfjähriges Einreiseverbot. Der finnische Russland-Apologet und „Putin-Anhänger“ Johan Bäckman gilt ebenfalls als Persona non grata. Der Buchautor bezeichnete die estnischen Medien im Gegensatz zu den russischen Medien als unfrei und sah keine sowjetische Okkupation.

2016 berichtete der estnische Geheimdienst, dass zwei Rechtsextremisten aus Russland nach Estland „entsandt“ worden seien, um bei öffentlichen Events neo-nationalsozialistische Symbole zu zeigen. 2022 ist es durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine zu einer neuen Welle von Einreiseverboten gekommen, die auch zwei bekannte Künstler betrifft, die in der Vergangenheit mit Putin sympathisierten und in Estland auftreten sollten.

Russisches Säbelrasseln gegen das Baltikum

Zurück zu Russland: Präsident Putin wirft den baltischen Staaten vor, russische Bürger zu vertreiben. Er sehe durch dieses Vorgehen „die Sicherheit Russlands“ gefährdet. Auslöser war offenbar die Nachricht, dass die lettische Regierung im Januar Russen ohne lettische Sprachkenntnisse die Abschiebung androhe. Russland hat vermeintliche Benachteiligung von Staatsbürgern bereits mehrfach als Kriegsgrund herangezogen. Der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew nannte die Länder Estland, Lettland und Litauen „unsere baltischen Provinzen“.

Noch vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine trainierte Russland gemeinsam mit Belarus jahrelang bei sogenannten „Sapad“-Manövern einen militärischen Konflikt mit Polen und dem Baltikum – in unmittelbarer Nähe zu den drei baltischen Staaten. Die Übungen seien rein defensiv, beschwichtigte Russland damals. Doch auch der Krieg gegen die Ukraine begann 2022 mit einem angeblichen gemeinsamen Manöver. Russland nutzte Belarus als Aufmarschgebiet und griff auch von dort aus die Ukraine an.

Der Westen sollte also nicht so naiv wie in der Vergangenheit sein. Das gilt auch und gerade für Länder wie Deutschland und Österreich. Dort hätte man besser und früher auf die baltischen Staaten hören sollen.


Der Autor ist Politikwissenschaftler und lebte von April 2014 bis August 2023 in der estnischen Hauptstadt Tallinn. Seither ist er als Forschungsdirektor des Europäischen Instituts für Terrorismusbekämpfung und Konfliktprävention (EICTP) in Wien tätig.

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