„Immerhin, aber zu spät“ – so könnte einmal ein Buch über die Amtszeit von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier heißen. Es gilt für die späte Einsicht des ehemaligen SPD-Außenministers in die Fehler der deutschen Russlandpolitik. Jetzt mahnt das Staatsoberhaupt eine Wende in der Migrationspolitik an. In für Steinmeier ungewöhnlich deutlichen Worten sagte er am Sonntag bei einer Gedenkveranstaltung in Solingen: „Wir wollen dieses Land bleiben und können es am Ende doch nur bleiben, wenn uns die Zahl derer, die ohne Anspruch auf diesen besonderen Schutz kommen, nicht überfordert.“
Die FAZ hat darüber berichtet, dass im ursprünglichen Manuskript, das sechs Stunden vor der Rede verbreitet wurde, die Formulierung sogar noch schärfer gewesen sei. Dort hatte es geheißen, die Zahl müsse heruntergebracht werden. Steinmeier erklärte weiter, dass in Solingen der Staat „sein Versprechen auf Schutz und Sicherheit“ nicht eingehalten habe, er sei daher nun dazu verpflichtet, die Fehler und Versäumnisse aufzuarbeiten. Aber das alleine reiche nicht aus. „Wir müssen jede Anstrengung unternehmen, um die Regeln zur Begrenzung des Zugangs, die es schon gibt, um die, die wir gerade zusätzlich schaffen, umzusetzen. Das ist eine Riesenaufgabe.“
Diese Worte sind ein regelrechter Arbeitsauftrag des Bundespräsidenten für den Asylgipfel, zu dem der Kanzler für heute Nachmittag eingeladen hat. Er fordert schnelle, klare und vor allem langfristige Lösungen, spricht von einer nationalen Kraftanstrengung und mahnt, dies sei ein Signal an die Union, hier solle über parteipolitische Grenzen hinweg zusammengearbeitet werden.
Umdenken im kirchlichen Umfeld?
Das sind alles völlig richtige Gedanken. Und in der Tat sollten sich die Teilnehmer des Gipfels Steinmeiers Worte zu Herzen nehmen. Nur: Sie kommen eben viel zu spät. Ähnliche Erkenntnisse des Staatsoberhauptes vielleicht noch vor fünf Jahren hätten die Chance gehabt, die Gräben, die der Streit über die Migration durch Deutschland zieht, nicht so tief werden zu lassen, wie sie jetzt sind. Schon Steinmeiers Vorgänger Joachim Gauck hatte 2015 gesagt: „Unser Herz ist weit, aber unsere Aufnahmekapazität beschränkt.“ Nur leider hatte Gauck, obwohl weit sprachmächtiger als sein Nachfolger, dieses Thema nicht weitergeführt. Wenn Steinmeier nun daran anknüpft ist das gut. Der Bundespräsident hat, wenn man so will, den Sandsack geschultert und will die Gräben wieder zuschütten.
Dafür braucht man starke Schultern. Oder viele kräftige Arme, die mithelfen. Und hier liegt auch ein Wert von Steinmeiers Worten. Wenn es dem Bundespräsident gelingen sollte, in den Milieus, in denen er noch eine Autorität besitzt, einen Umdenk-Prozess einzuleiten, wäre das ein großer Fortschritt. Dazu zählen auch die Gruppen im kirchlichen Umfeld, die bisher allzu naiv und gesinnungsethisch auf die Flüchtlingsfrage geschaut haben. Vielleicht hört man hier einem Frank-Walter Steinmeier, den nur seine Wahl zum Staatsoberhaupt daran hinderte, Evangelischer Kirchentagspräsident zu werden, genauer zu.
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