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Ruanda: Unverheilte Wunden

Der Genozid in Ruanda an gemäßigten Hutu und Tutsi liegt genau 30 Jahre zurück. Wie versöhnt ist das Land heute?
Eine Sammlung von Schädeln lokaler Opfer des Völkermords von 1994 ist in der Gedenkstätte Nyarubuye Genocide Memorial ausgestellt.
Foto: imago stock&people via www.imago-images.de (www.imago-images.de) | Eine Sammlung von Schädeln lokaler Opfer des Völkermords von 1994 ist in der Gedenkstätte Nyarubuye Genocide Memorial ausgestellt. Beim Nyarubuye Massaker wurden am 15.

Hallo Marie-Goretti, ich bin im Gefängnis, sowohl in meinem Herzen, als auch mit meinem Körper. Ich bitte dich um Verzeihung für alles, was ich getan habe. Ich bitte die ganze Gesellschaft in Ruanda um Verzeihung. Ich weiß, dass ich gesündigt habe und ich werde alles tun, um das wieder gutzumachen.“ Marie-Goretti zittert, als sie den Brief in den Händen hält, der gerade aus dem Gefängnis bei ihr angekommen ist. Die Worte des Mörders ihrer Familie lassen tiefe Traurigkeit und zugleich ein Stück Erleichterung in ihr aufsteigen. Denn es war höchste Zeit dafür.

Der Genozid hat tiefe Wunden in die ruandische Gesellschaft gerissen. Innerhalb von rund hundert Tagen wurden 800 000 Menschen ermordet. Es war das größte Massenmorden innerhalb so kurzer Zeit seit dem Abwurf der Atombomben auf Japan im Zweiten Weltkrieg. Am 7. April 1994, nachdem das Flugzeug des damaligen Hutu-Präsidenten Juvénal Habyarimana abgeschossen worden war, zogen die Armee, die Interahamwe-Miliz, eine paramilitärische Kampforganisation der damaligen Regierungspartei, vor allem aber Zivilisten aus, um zu töten. Die Regierung und Medien riefen dazu auf, Tutsi, die als „Kakerlaken“ bezeichnet wurden, auszulöschen, Hutu zu ermorden, die sich nicht an den Massakern beteiligten wollten und Frauen vor dem Tod noch zu vergewaltigen.

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Rund 200.000 Menschen sollen sich an den Massenmorden und -vergewaltigungen beteiligt haben. Entweder man wurde zum Opfer oder zum Täter des Genozids. Etwas dazwischen gab es im Grunde nicht. Die im Exil formierte Widerstandsgruppe „Rwandan Patriotic Front“ (RPF) beendete unter dem Kommando des heutigen Präsidenten Paul Kagame am 13. Juli den Genozid. 30 Jahre später bemüht sich die ruandische Regierung unter der RPF darum, ein geeintes Bild des Landes zu präsentieren. Laut offiziellen Statistiken ist Ruanda zu 96 Prozent versöhnt. Immer wieder ist das Motto des Versöhnungsprozesses „Wir sind alle Ruander“ im Alltag zu hören. Es gibt zahlreiche Projekte zur Reintegration von ehemaligen Gefangenen, zur Betreuung von Traumatisierten, Projekte zur gewaltfreien Konfliktlösung und gemeinschaftsbildende Maßnahmen wie „Umuganda“. Dabei arbeiten die Bürger am letzten Samstag des Monats gemeinsam in ihren Dörfern, zum Beispiel, indem sie die Straßen und Wege sauber machen. Anschließend treffen sie sich im Gemeindezentrum zum Austausch.

Auf den ersten Blick scheinen die Versöhnungsbemühungen Wirkung zu zeigen. Wenn man die Frauen sieht, die lachend die Mörder ihrer Männer in den Arm nehmen, wenn man Nachbarn trifft, von denen der eine früher den anderen ermorden wollte, und die nun zusammenarbeiten, wenn man mit Mördern spricht, die heute Versöhnungsprogramme leiten, dann will man glauben, dass das Land von seinen tiefen Wunden geheilt ist. Die Menschen leben miteinander, sie arbeiten miteinander, sie beten miteinander. Immer wieder ist von Überlebenden in Bezug auf ihre Angreifer zu hören: „Früher hatte ich Angst, vor ihm. Er war für mich kein Mensch, sondern wie ein wildes Tier. Aber jetzt ist alles gut.“

Die Angst vor neuer Gewalt beherrscht die Politik

Doch wenn man etwas tiefer geht, zeigt sich ziemlich eindeutig: Es ist nicht alles gut. Unter der oberflächlichen Kruste, die über die Wunde des Genozids gewachsen ist, klafft noch immer eine tiefe Wunde. Nur etwa 15 Prozent der für Straftaten während des Genozids schuldig Gesprochenen bat bis 2018 ihre Opfer um Verzeihung, wie der damalige Generalkommissar der ruandischen Strafvollzugsbehörden, George Rwigamba, berichtete. Aktuellere Zahlen dazu gibt es nicht.

Doch die Ideologie des Genozids gibt es nach wie vor, darin sind sich alle einig. „Bei den Gedenkveranstaltungen zum Genozid kommt es immer wieder zu Vorfällen, bei denen Teilnehmer Überlebende des Genozids beleidigen und beschimpfen oder den Genozid anzweifeln“, erzählt eine Mitarbeiterin der katholischen Friedenskommission „Justitia et Pax“, deren Namen aus Sicherheitsgründen nicht genannt wird. Ein Touristenführer sagt während der Autofahrt: „Vor allem unter den alten Menschen wird noch die Einteilung in Hutu und Tutsi vorgenommen. Wir warten darauf, dass die Ideologie mit ihnen ausstirbt, damit wir in Frieden leben können.“ Ein Taxifahrer bezeichnet den Genozid auf der Fahrt in die Hauptstadt Kigali leichtfertig als „Krieg“. Wie weit diese Denkweise noch verbreitet ist, lässt sich kaum sagen. Denn Hilfsorganisationen ist es nicht erlaubt, eigene Erhebungen dazu zu machen, wie weit fortgeschritten der Versöhnungsprozess ist und die Leute zu befragen, wie sie denken.

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Die Angst vor einem neuen Gewaltausbruch beherrscht die komplette Politik und hat zu klar definierten Erzählungen geführt, denen nicht widersprochen werden darf. Es ist immer nur die Rede vom „Genozid gegen die Tutsi“. All die Hutu, die ihr Leben dafür gelassen haben, dass sie andere geschützt haben oder die selbst nicht morden wollten, werden unterschlagen. Die klare Opfer-Täter-Einteilung führt zu einem unterdrücktem Unmut, der irgendwann aufbrechen und das Land erneut in Chaos stürzen könnte. Auch wenn die Rede von „Hutu“ und „Tutsi“ inzwischen verboten ist und sich heute alle als Ruander sehen sollen, ist die Unterteilung nicht aus den Köpfen der Menschen verschwunden. Nach dem Genozid wurden die politische Elite und die Verwaltung komplett ausgetauscht – es ist ein offenes Geheimnis, dass nun vor allem die ehemals als „Tutsi“ Eingestuften das Sagen haben. Viele Leute trauen sich nicht, offen über den Genozid zu sprechen, weichen Fragen aus. Es herrscht ein Klima der Angst.

Angst vor Fragen

Es gibt ein Gesetz gegen das „Verbrechen genozidaler Ideologie“, das sehr weit gefasst ist und dementsprechend großzügig interpretiert werden kann. Darunter fällt nicht nur die „Fälschung von Zeugenaussagen oder Beweisen für den Völkermord, der stattgefunden hat“, sondern auch „Schadenfreude“ oder „das Wecken schlechter Gefühle“. Wer schuldig befunden wird, kann eine Gefängnisstrafe zwischen zehn und 25 Jahren erhalten. Eine junge Frau sagt unverfroren im Gespräch: „Ich könnte auch Sie bei den Behörden melden.“

Nur ein Priester wagt es abends beim Essen die verbotene Frage zu stellen: „Was, wenn es wieder passiert? Es war damals eine Ideologie, die die Menschen zum Töten veranlasst hat. Wer sagt, dass sie sich nicht wieder Bahn bricht? Nicht momentan, aktuell haben wir eine gute Politik. Aber vielleicht in drei, fünf Jahren.“ Die anderen Priester wischen seine Aussage schnell beiseite: „Das kann dir niemand beantworten.“ – „Du übertreibst.“ Aber Ersterer bleibt hartnäckig: „Man sagt immer, es waren die Belgier, die die Propaganda verbreitet haben, aber die Leute haben sich selbst für das Töten entschieden. Woher wissen wir, dass die Umarmungen zwischen Tätern und Opfern ernst gemeint sind? Das Thema kennt kein Ende.“

Spricht man mit den Jugendlichen, die an einem katholischen Projekt zur gewaltfreien Konfliktlösung teilnehmen, bekommt man ein gemischtes Bild, für wie erfolgreich die baldigen Schulabsolventen die Versöhnungsarbeit ihres Landes halten. Die einen meinen, das Land sei bereits vollständig befriedet, andere sagen, dass es noch Konflikte gäbe, teilweise auch unter den Eltern, aber das Land sich auf einem guten Weg befände. Nur einer äußert sich wirklich kritisch: „Die Versöhnung hat überhaupt nicht funktioniert, aber es wurde zumindest versucht.“

Frieden, wie ein Pflaster auf die Wunde geklebt

Doch alle sind sich einig: alle würden in Ruanda gleich behandelt, eine unterschiedliche Behandlung aufgrund der Herkunft gebe es nicht. „Wir haben alle das Ziel, unser Land zu entwickeln“, meint eine Schülerin.

Im Pfarrgemeindehaus von Kiruhura, im Süden Kigalis, wo der Genozid besonders stark gewütet hat, sitzen Ex-Gefangene, die am Genozid beteiligt waren und Überlebende in einem Stuhlkreis beisammen. Sie nehmen aktuell teil an einem Versöhnungsprogramm der katholischen Kommission „Justitia et Pax“. Die Stimmung ist angespannt. Die Antwort auf Fragen kurz und knapp und oberflächlich, als wollten sie einen möglichst schnell wieder loswerden. Immer wieder beginnen die Leute unter sich in der Landessprache Kinyarwanda zu tuscheln. Eine Frau erzählt vom Mörder ihres Mannes, der in der Verwaltung im Ort tätig gewesen sei und Straßenblockaden mit aufgebaut habe, um die Tutsi zum Töten abzufangen. Sie trägt eine schwarze Perücke, eine Brille, die ihre Augen unnatürlich groß erscheinen lässt und sitzt wie zusammengesackt auf ihrem Stuhl. Neben ihr sitzt eine Frau, deren Mann bald aus dem Gefängnis entlassen wird. Ihr Gesicht sieht wie versteinert, wütend aus. Die andere Frau spricht schnell, sie erzählt, dass der Mörder ihres Mannes nach seiner Freilassung aus dem Dorf weggezogen ist, er war dort nicht mehr willkommen. Der Redefluss reist ab, sie beginnt zu weinen. „Ich konnte es nicht“, sagt sie. „Ich konnte ihm nicht verzeihen.“

Je länger man sich in dem Land aufhält, desto mehr entsteht der Eindruck: Es herrscht ein künstlicher Friede, der von oben wie ein Pflaster auf die Wunde des Genozids geklebt wurde. Die harte Hand, mit der Paul Kagame das Land regiert, unterdrückt schlicht alles, was dem von der Regierung gezeichneten Bild der Versöhnung widerspricht. Wie weit die Heilung des ethnischen Denkens und der Verwundungen, die daraus entstanden sind, tatsächlich vorangeschritten ist, wird sich erst sagen lassen, wenn das Pflaster Paul Kagame, das die Gesellschaft zwanghaft zusammenhält, nicht mehr auf der Wunde klebt. Die einzige Hoffnung auf langfristige und echte Heilung für das Land ist die Jugend, die sich tatsächlich mehr als Ruander und nicht mehr als „Hutu“ oder „Tutsi“ sehen, sowie der Wunsch aller nach mehr Wohlstand, nach einem besseren Leben.

Die Menschen wissen, dass sie dafür zusammenhalten müssen. Doch wie tief diese Heilung bereits reicht, wird sich erst zeigen, wenn den Menschen nicht mehr diktiert wird, was sie sagen und denken dürfen. Die Zeit nach Kagame wird zeigen, ob die Wunde letztendlich verheilt ist oder wieder zu bluten beginnt. Beides ist möglich.

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Veronika Wetzel Paul Kagame Vergewaltigung

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