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„Ohne den Glauben hätte ich nicht verzeihen können“

Joseph wollte seinen Nachbar Laurien während des Genozids in Ruanda 1994 ermorden. Laurien hat überlebt. Eine Geschichte über Hass und Versöhnung.
Joseph wollte seinen Nachbar Laurien während des Genozids in Ruanda 1994 ermorden.
Foto: Veronika Wetzel | Vor 30 Jahren versuchte Joseph Laurien während des Genozids in Ruanda zu töten (Namen von der Redaktion geändert). Heute betreiben sie gemeinsam eine Farm.

Mitternacht, der Regen prasselt auf das Dach aus Bananenblättern. Laurien (Name von der Redaktion geändert) kann nicht schlafen. Er kauert unter dem Bett in dem Haus, in dem er sich versteckt hält. „Sie werden mich finden, sie werden mich töten“, hämmert es unaufhörlich in seinem Kopf. Dann hört er es: Erst Stimmen aus der Ferne, die sich langsam nähern, dann die Schritte mehrerer Personen auf dem feuchten Boden. „Sie sind da. Sie haben mich gefunden. Ich werde sterben“, denkt Laurien. Sein Herz beginnt immer schneller zu klopfen, dann klopft es an der Tür. Er hört Stimmen durcheinandersprechen, eine Stimme, die fordert, dass er herauskommen soll. Er kennt die Stimme. Es ist die Stimme seines Nachbarn Joseph (Name von der Redaktion geändert). Die Mutter, bei der er sich versteckt hält, gibt der Forderung nicht nach, sie weigert sich, die Tür zu öffnen. Es klopft wieder an der Tür, diesmal lauter. Die Männer drohen, die Tür einzuschlagen, wenn sie nicht geöffnet wird. Schließlich entscheidet sich Laurien, hinauszugehen. Er muss es tun, denkt er sich, um die Familie, die ihm Unterschlupf gewährt hat, nicht weiter in Gefahr zu bringen. Er ist bereit für seinen Tod.

Als Laurien aus dem Haus kommt, sieht Joseph seinem Nachbar ins Gesicht und denkt sich: „Ich kann es nicht tun. Ich kann ihn nicht töten.“ Joseph hat sich der Interahamwe-Miliz aus Angst angeschlossen. Angst, selbst von ihr abgeschlachtet zu werden, wenn er nicht selbst beim Abschlachten mitmacht. Die Täter packen Laurien, schleifen ihn zum Fluss, fesseln seine Hände auf dem Rücken, füllen seine Jackentasche mit Steinen und werfen ihn in den Fluss, wo bereits zahlreiche Leichen im Fluss treiben.

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Es ist das Jahr 1994. Vor knapp einer Woche ging es los – das systematische Morden von Tutsi und gemäßigten Hutu, das systematische Vergewaltigen von Frauen, zu dem die Habyarimana-Regierung aufrief. Schon länger schwelten die Wut und das Misstrauen in der Bevölkerung gegen Tutsi: Sie wurden von Universitäten verbannt, durften nicht länger Posten in der Verwaltung bekleiden. Wenn ein Verbrechen begangen wurde, zum Beispiel ein Diebstahl, war klar: Die Tutsi waren es. Mit dem Abschuss des Flugzeugs von Präsident Habaryiama schlägt der Hass und das Misstrauen in eine unvorstellbare Welle der Gewalt um. Nicht nur die Armee zieht aus, um zu morden, sondern Menschen, die zuvor lange Seite an Seite gelebt haben, werden zu Mördern. Nachbarn ermorden Nachbarn, Ehepartner ermorden Ehepartner, Kinder ihre Eltern und umgekehrt.

Überfüllte Gefängnisse

Laurien ist einer derer, die das Massaker überleben. Er wird im Strom der Leichen flussabwärts getrieben, bis er von der Strömung schließlich an den Rand gespült wird und sich ans Ufer hieven kann. Er läuft und läuft, bis er schließlich einen Stall entdeckt, in dem er sich versteckt und erschöpft einschläft. Joseph sieht in die Gesichter der Gemeinde, die sich zum bürgerlichen Gacaca-Gericht versammelt haben. Hier entscheiden geachtete Männer, die in einem Schnellverfahren eine juristische Grundausbildung durchlaufen haben, über das Schicksal ihrer Mitbürger, um über die Masse an Tätern zu urteilen. Das Gesicht von Laurien ist nicht dabei. Joseph ist gerade aus dem Gefängnis entlassen worden. Fast zehn Jahre saß er im Gefängnis für den versuchten Mord an Laurien und für seine Beteiligung an der Miliz. Eigentlich hätte er 15 Jahre sitzen müssen, aber da er sich einsichtig und Reue gezeigt hat, wurde seine Zeit verkürzt. Ruanda entlässt viele Mörder frühzeitig aus dem Gefängnis, in erster Linie wegen Überfüllung.

Er sieht die Gemeinde an und bittet um Vergebung. Er hofft, dass auch Laurien ihm vergeben wird, aber er fürchtet sich davor, ihn zu treffen. Er fürchtet, dass sein Nachbar sich an ihm rächen könnte. „Ich war zwar nicht mehr im Gefängnis, aber im Herzen habe ich mich nicht frei, sondern immer noch wie ein Gefangener gefühlt“, erzählt der kleingewachsene Mann, während er auf einem schwarzen Ledersofa in der Pfarrgemeinde von Nyamata neben Laurien sitzt. Er knetet immer wieder seine Hände, während er spricht, unter seinen Nägeln klebt Erde, an seiner Kleidung haftet der Geruch von Tierstall.

Fanta als Friedensangebot

Laurien entscheidet sich, nicht zum Treffen des Gacaca-Gerichts zu gehen. Er möchte Joseph nicht sehen. Noch immer leidet er unter dem Geschehenen, fühlt sich oft niedergeschlagen und depressiv. Doch Joseph kommt von allein. Es klopft an Lauriens Tür. Joseph steht davor. Dieses Mal nicht, um ihn zu töten, sondern um Verzeihung zu erbitten. In Lauriens Erinnerung spielen sich die Bilder von jener Nacht ab, als Joseph ihn dem Tod ausliefern wollte. Er schließt die Tür und schickt seinen Nachbarn wieder weg. Doch Joseph gibt nicht auf. Es ist ihm wichtig, mit seinem Nachbarn wieder in Frieden leben zu können, ihm zu beweisen, wie aufrichtig leid es ihm tut, was er getan hat. Joseph kommt wieder. Diesmal mit einem Verwandten von Laurien, den er gebeten hatte, ihn zu begleiten. Diesmal entscheidet sich Laurien, die Tür offen zu halten, bittet Joseph ins Haus, gibt ihm eine Fanta und setzt sich mit ihm gemeinsam an den Tisch. In Ruanda ein Zeichen für Freundschaft, für Versöhnung.

„Es waren acht Männer, die mich damals zum Fluss geschleift haben und töten wollten“, erzählt Laurien während er in die Ferne schaut. „Aber nur Joseph hat mich um Vergebung gebeten. Ich bin mir sicher: Es war Gott, der Joseph zur Umkehr bewegt hat.“ Doch die Versöhnung ist ein langer Weg. Sie gehen immer wieder gemeinsam den Weg in die Vergangenheit, um damit abschließen zu können. Nicht nur in ihrer Erinnerung. Sie laufen manchmal gemeinsam nach Nyamata, einer Kleinstadt in der Nähe ihres Dorfes. In der ehemaligen Kirche von Nyamata wurden 10.000 Menschen ermordet, heute dient sie als Denkmal an den Genozid.

Aus Todfeinden werden Freunde

Die Kirche war auch ein wichtiger Wegbereiter für die Versöhnung der beiden. Sie nehmen an Gruppentreffen der katholischen Friedenskommission „Justitia et Pax“ teil, die zur Heilung und Versöhnung beitragen sollen. Und so langsam spürt Laurien, wie sich Wut und Trauer in Verzeihung verwandeln und er selbst dadurch frei wird: „Ohne den Glauben hätte ich Joseph nicht verzeihen können. Gott hat meine Wunden geheilt.“ Der Blick in die Vergangenheit ist nun kein schmerzhafter mehr. Laurien klingt weder wütend noch traurig, wenn er die Geschichte erzählt, in seinen Augen liegt sogar ein leichtes Lächeln, während er spricht. Die Ruhe, mit der beide ihre Geschichte erzählen, während sie nebeneinandersitzen, würde nicht vermuten lassen, dass der eine den anderen ermorden wollte. Vielmehr wirkt es, als würden sie eine Geschichte erzählen, die nicht die ihre ist.

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Nyamata, Genozid-Gedenkstätte. Joseph und Laurien sprechen leise miteinander, während sie über das Gelände der ehemaligen Kirche laufen. Das, was von den Getöteten übrig blieb, liegt heute unter der Kirche in einem Massengrab in leicht geöffneten Särgen, um zu erinnern. In der Kirche, deren Türschloss vom Aufbrechen der Milizen verbeult ist, erzählen die Kleidungsstücke der hier Getöteten von all den Menschen, die hier ihr Leben gelassen haben: Auf den Bänken türmen sich Männerkleidung, Frauenkleidung, Babykleidung. Auf ihnen setzt sich roter Staub ab, der die Blutflecken darauf allmählich überdeckt.

Joseph und Laurien gehen gemeinsam durch die metallene Tür der neuen Kirche von Nyamata, direkt neben dem alten Kirchengebäude, das heute nur noch als Museum dient. Die Kirche ist größer als die alte. Sie setzen sich in die erste Reihe, schauen schweigend auf das Kreuz, beginnen zu beten. Joseph trägt einen sauberen weißen Sakko, Laurien einen dunkelblauen Sakko. Die Kleidung sieht neu aus. Wahrscheinlich das Beste, was sie haben. Wahrscheinlich ihre Sonntagskleidung. Wenn man die beiden Männer nebeneinander beten sieht, spürt man: Das Alte ist vergangen und vergeben. Inzwischen betreiben die beiden gemeinsam eine Farm. Sie sind nicht mehr nur Nachbarn, sondern Freunde: Laurien stellt selbst ein wenig überrascht fest: „Heute verstehen wir uns besser als vor dem Genozid.“

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Veronika Wetzel Kirchengemeinden

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