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"Tatsächlich gibt es alle Anzeichen für einen teuflischen Krieg"

Der Bischof von Odessa, Stanislaw Szyrokoradiuk, gab beim Jubiläum der "Tagespost" ein Zeugnis über sein Leben als Bischof im Krieg.
Bischof Stanislaw Szyrokoradiuk im Gespräch mit Tagespost- Korrespondent Stephan Baier
Foto: Jonas Hahn | Bischof Stanislaw Szyrokoradiuk im Gespräch mit Tagespost- Korrespondent Stephan Baier.

Im Rahmen des Festaktes der Tagespost am 9. September in Würzburg gab der römisch-katholische Bischöfe von Odessa ein Zeugnis von seinem Leben als Bischöfe in diesem mörderischen Krieg. Die Tagespost dokumentiert dieses Zeugnis hier im Wortlaut.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Brüder und Schwestern,

es ist mir als Bischöfe der römisch-katholischen Kirche sehr wichtig, an eine der wichtigsten Aufgaben der Kirche zu erinnern, nämlich die Wahrheit zu verkünden.
Ich möchte also mit der Wahrheit über die Hauptursachen dieses Krieges beginnen. Ich war ein direkter Zeuge und habe gesehen, wie alles begann, denn ich war 2014 auf dem Maidan und auch die Frage ist, wo und warum der Maidan passiert ist. Von den ersten Tagen der Unabhängigkeit der Ukraine an wollte das ukrainische Volk die europäische Integration, und alle Präsidenten versprachen, dass wir diesen Weg gehen würden.

Auch Präsident Janukowitsch versprach, dass die Ukraine zu Europa gehören würde, aber wenn die Zeit gekommen war, das Integrationsabkommen zu unterzeichnen, er plötzlich sagte nein.

Vor den Augen der ganzen Welt wandte er sich in eine völlig andere Richtung, und jeder verstand, dass dies ein besonderer oder persönlicher Befehl von Putin war.
Jeder hat verstanden, wessen Protegé Präsident Janukowitsch war, und wusste, dass das ukrainische Volk einfach nur ausgelacht und offenkundig belogen oder zum Gespött gemacht worden war.

1. Die erste Reaktion auf diese Lüge war ein Protest der jungen Leute, die auf die Straße gingen.
2. Die Behörden schickten die Polizei, die die Jugendlichen brutal zusammenschlug und den Protest auflöste. Es war sehr wild und grausam.
3. Die Menschen haben sofort und sehr aktiv reagiert, und es war eine gesunde Reaktion.

Ich bin stolz darauf, wie das ukrainische Volk auf dieses Verhalten der Behörden reagiert hat.

Video

 

Der Protest auf dem Maidan dauerte über zwei Monate, ich habe alles gesehen und daran teilgenommen, und er endete mit der Erschießung von über 70 Menschen an einem Tag, am 20. Februar 2014. Statt in Panik und Angst zu verfallen, erhob sich die Ukraine noch mehr, bereit für jeden Angriff auf das Regierungsviertel in Kiew.
Präsident Janukowitsch spürte die Gefahr und floh nach Moskau.

Und die Ukraine verkündete dann wieder;
1. Die Ukraine will die vollständige Unabhängigkeit von Russland.
2. Die Ukraine geht nach Europa und in die NATO.
3. Die Ukraine hat die vollständige Entkommunisierung erklärt, was bedeutet, dass sie sich ihrer kommunistischen und sowjetischen Vergangenheit entledigt, alle Denkmäler und Zeichen beseitigt und die Mentalität der Menschen ändert!

Und dann begann der Krieg, die Invasion des Donbass, die Annexion der Krim und der Versuch, die gesamte Ost- und Südukraine an sich zu nehmen.
 
Dies dauerte 8 Jahre, aber leider hat die Welt davon nichts bemerkt, obwohl einige Politiker, wie Lech Kaczynski, bereits 2008, als der Krieg in Georgien begann, die Welt dazu aufrief, sich gegen diese Moskauer Aggression zu vereinen, denn ich zitiere: "Heute Georgien, morgen Ukraine und übermorgen Polen und ganz Europa."
3. Leider hat die Welt dies erst am 24. Februar 2022 begriffen, als um vier Uhr morgens die gesamte Ukraine bombardiert wurde, ohne dass der Krieg erklärt wurde.
Der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel Bartholomäus nannte diesen Krieg dann einen teuflischen Krieg.

Und tatsächlich gibt es alle Anzeichen für einen genau teuflischen Krieg.

1. Dies ist eine totale Lüge, und das Schlimmste an dieser Lüge ist, dass das absolut Böse als eine Art des Guten dargestellt wird. Zum Beispiel, dass es sich nicht um einen Krieg, sondern um eine Spezialoperation handelt, dass es sich nicht um eine Eroberung, sondern um eine Befreiung handelt, dass es sich nicht um Zerstörung und Mord, sondern um den Schutz der russischen Bevölkerung vor ukrainischen Nazis handelt. Und dass die Ukraine selbst ihre Städte bombardiert, verbrennt, ertränkt, zerstört und so weiter. Und wie ihr wisst, ist der Teufel der Vater der Lüge.

2. Das 2. Zeichen ist der Hass auf das ukrainische Volk, ein schrecklicher Hass, und zwar ohne jeden Grund, ohne jeden Beweis, warum man dieses unschuldige Volk so sehr hasst. Die schreckliche russische Propaganda hat alles getan, damit die Russen das ukrainische Volk hassen.

3. Und das 3. Zeichen ist die totale Zerstörung der Infrastruktur von zivilen Städten, Krankenhäusern, Schulen, Kindergärten, das Verbrennen von Getreide, die Zerstörung von allem Ukrainischen, die Deportation von Kindern - das sind auch Zeichen von Völkermord. Aber all dies wird Millionen von Russen als wahres Gut präsentiert, und die Russen glauben es und freuen sich darüber. Ist das nicht das Werk des Teufels?

Eine weitere Wahrheit, die die Welt verstehen muss, ist, dass dies kein Krieg um Territorien ist, sondern um eine Ideologie. In der Tat ist die Sowjetunion nicht zusammengebrochen, wie wir alle denken, sie hat ihr Territorium etwas verkleinert, aber die kommunistische Ideologie in Russland hat sich überhaupt nicht verändert. Auch die Propagandamethoden, die auf totalen Lügen basieren, haben sich nicht geändert. Die Idee, ein neues Imperium, eine neue Sowjetunion ohne ein unabhängiges Volk aufzubauen, und natürlich ein Allianz mit der Ukraine, ohne die Ukraine ist unmöglich.

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Das ist das Hauptziel des Krieges, und deshalb ist die Ukraine ein Opfer für ihre Unabhängigkeit, ihre europäische Integration und die echte Entkommunisierung geworden, die absolut notwendig ist, um sich von dem Erbe der kommunistischen Vergangenheit und der gesamten Ideologie zu befreien. Die ganze Welt hat es ja gehört: "Ihr wollt Entkommunisierung, wir zeigen euch Entkommunisierung", rief Putin der ganzen Welt zu.

4. Hier möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Realität des Krieges lenken und darauf, was die Kirche im Kontext des Krieges in der Ukraine tut. Sie erfüllt ihre wichtigste Aufgabe, die Menschen zum ewigen Erlösung zu führen, die Menschen zu evangelisieren und eine große pastorale Arbeit zu leisten. In jeder Situation sollten die Menschen ihre Menschenwürde und das Heil ihrer eigenen Seele nicht vergessen.

"Zu meiner Überraschung blieben
fast alle Priester bei ihren Gläubigen."

Dann sind natürlich die karitativen und wohltätigen Aktivitäten sehr weit gefasst. Vom ersten Tag des Krieges an war unsere Kirche aktiv an der Evakuierung von Menschen beteiligt, vor allem von Frauen und Kindern, was eine große Aufgabe unter sehr panischen und schwierigen Bedingungen war.

Diejenigen, die wohlhabender waren und über ein eigenes Transportmittel verfügten, reisten zuerst ab, den Ärmeren musste bei der Abreise geholfen werden, und die Ärmsten aber und Kranken blieben allein zurück, sie brauchten Pflege, und die Kirche kümmerte sich auch um sie.

Zu meiner Überraschung blieben fast alle Priester bei ihren Gläubigen, obwohl sie die Möglichkeit und das Recht hatten, zu gehen, und einige von ihnen sind immer noch besetzt, aber sie blieben bei ihren Gläubigen.

Von den Pfarrgemeinden habe ich viel Dankbarkeit für die Priester erhalten, die bei ihnen geblieben sind, die mit ihnen nicht nur in Kirchen, sondern auch in Luftschutzkellern und Kellern gebetet haben und alles mit ihnen geteilt haben, was sie hatten. Und vor allem tun sie alles, was sie können, damit die Gläubigen ihren Glauben und ihre Hoffnung nicht verlieren. Mit anderen Worten: Die Kirche hat Mitgefühl mit ihren Gläubigen in ihrem Leid, trauert um die Toten und unterstützt sie in ihrer Not. Und der schwierigste Dienst für uns Priester ist es, zu Beerdigungen zu gehen und die jungen Männer zu beerdigen, die dieser Aggression zum Opfer gefallen sind.

Es ist schwer, diejenigen zu beerdigen, die man getauft oder getraut hat, es ist sehr schwer, Worte des Trostes für Verwandte und Freunde zu finden, es ist schwer, in die Augen einer Waise oder Witwe zu schauen. Es ist schwer, die Frage zu beantworten, warum und wofür sie sterben - das ist der Preis für unsere Unabhängigkeit.
Natürlich Der Krieg hat auch alle Ukrainer vereint, sowohl im Osten als auch im Westen, und die pro-russischen Gefühle verschwinden, selbst bei Menschen russischer Herkunft, die im Osten oder Süden der Ukraine leben.

Es gibt eine neue Klärung oder ein neues Verständnis des Unterschieds zwischen Russen, das heißt nach Nationalität, und denjenigen in Russland, und Russen mit seine Rassismus.

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Viele Russen traten in die Armee ein, um gegen die Russen zu kämpfen, die bereits für alle zu Invasoren und Nazis geworden waren.
Der Zusammenhalt und das Verständnis unter der ukrainischen Bevölkerung sind sehr stark geworden, und die Menschen sind sehr opferbereit und wollen den Soldaten helfen.

Ein Ereignis im März 2022 hat mich sehr berührt:
 
Zu Beginn und auf dem Höhepunkt des Krieges reiste ich nach Mykolaiv, um die Gemeinde und die Priester zu besuchen. Mykolaiv war am Stadtrand stark bombardiert, und die Kämpfe dauerten an.

"So verändert der Krieg die Menschen"

Wenn ich unterwegs war, hatte ich immer kleine Päckchen mit notwendigen Medikamenten, Süßigkeiten und anderen Dingen für Soldaten dabei und verteilte sie an den Kontrollpunkten, die wir durchfuhren.

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Als wir Odesa verließen, wurden wir an diesem Kontrollpunkt überprüft, und ich wollte ihnen ein paar dieser Päckchen überlassen, aber der Offizier sagte; „Sie fahren nach Mykolaiv und es daher besser sei, ihnen dort mehr zu geben, weil dort viele größere Not als hier“.

So verändert der Krieg die Menschen, zeigt wahre Freunde und offenbart versteckte Feinde und Verräter.

Besonders dankbar bin ich allen meinen Freunden aus Deutschland, Polen und Österreich, die seit dem ersten Tag des Krieges angerufen und ihre Hilfe angeboten haben. Ich bin besonders dankbar für dieses aufrichtige Zeichen der Solidarität mit unserem Volk. Ich weiß, dass viele Menschen für uns beten, und auch dafür sind wir sehr dankbar, denn wir brauchen das Gebet in diesem furchtbaren Krieg.

Im Namen meines Volkes möchte ich diese Gelegenheit nutzen, um allen aufrichtig für die humanitäre Hilfe zu danken, die wir zu Beginn des Krieges erhalten haben und immer noch erhalten, und ich danke Ihnen, dass Sie Ihre Türen für Millionen von Flüchtlingen aus der Ukraine geöffnet haben. Unser Volk ist sehr dankbar für alles und denkt in seinen Gebeten immer an seine Wohltäter. Wir versammeln uns oft in unseren Kirchen zu einer heiligen Messe für unsere Wohltäter beten, dass der gute Gott alle für ihre aufrichtigen und offenen Herzen belohnen möge.

Für Ihre Aufmerksamkeit danke ich sehr!

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