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Prävention oder Erleichterung?

Auf welche Probleme die geplante Neuregelung des assistierten Suizids zuläuft, erklärte die Psychologin Luna Grosselli auf einer Veranstaltung der „Jungen CDL“.
Bundesverfassungsgericht: "Es gibt ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben"
Foto: Patrick Pleul (dpa-Zentralbild) | Es gibt ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben, sagt das Bundesverfassungsgericht. Die Gesetzliche Neuregelung, die damit nötig wird, muss sich mit zahlreichen Problemen auseinandersetzen.

Warum nehmen sich Menschen eigentlich das Leben? Und was sollte die Politik angesichts dessen tun, um zu helfen? Darüber informierte die „Junge CDL“ (Christdemokraten für das Leben) am gestrigen Dienstag mit einem Onlinevortrag anlässlich der bevorstehenden gesetzlichen Neuregelung der Sterbehilfe durch den Bundestag. Die Referentin Luna Grosselli von der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention führte in rund eineinhalb Stunden inklusive Fragenrunde durch ein Thema, das in den kommenden Monaten noch an Bedeutung hinzugewinnen dürfte.

Das Bundesverfassungsgericht hatte im Jahr 2020 das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe gekippt, und gleichzeitig eine Art Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben formuliert, das wiederum eine legale Beihilfe Dritter, etwa durch Ärzte, einschließe. Seither befasst sich die Politik mit einer gesetzlichen Neufassung. Derzeit liegen drei fraktionsübergreifende Gesetzesentwürfe vor, die im vergangenen Jahr bereits in erster Lesung im Bundestag beraten wurden. Die endgültige Abstimmung soll nach Informationen des Norddeutschen Rundfunks noch vor der parlamentarischen Sommerpause 2023 erfolgen.

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Wann ist der Wille frei?

Durch den Vortrag Grossellis, die selbst Psychotherapeutin ist, wurde rasch deutlich: Die aktuelle Debatte hängt sich oft an Beispielen auf, die nur für einen Teil der Fälle stehen – etwa am unheilbar krebserkrankten 80-Jährigen, der aus freiem Entschluss zur Vermeidung unerträglicher Schmerzen selbstbestimmt seinem Leben ein Ende setzt, und dabei ärztliche Hilfe in Anspruch nimmt. Doch die Gründe, warum Menschen sich das Leben nehmen wollten, sind divers. In Deutschland gebe es jährlich etwa 9000 Suizide, so Grosselli, die meisten davon im mittleren Lebensalter zwischen 50 und 60 Jahren. Junge Menschen suizidierten sich zwar absolut gesehen nicht oft, für sie sei der Suizid dennoch die zweithäufigste Todesursache. „Es ist so, dass in jeder Schulklasse ungefähr zwei Leute sind, die schonmal starke Suizidgedanken hatten“, so Grosselli. Zwischen der Hälfte und 90 Prozent der Suizidanten hätten zudem psychiatrische Vorerkrankungen. Gerade bei Depressiven sei absolut fraglich – und umstritten – inwiefern die Entscheidung, sich das Leben zu nehmen, frei genannt werden könne. Auch psychische oder dementielle Erkrankungen könnten schlechte Prognosen mit sich ziehen, und hätten mit der kommenden Gesetzgebung ein Recht auf Suizidassistenz.

Freier Wille und Dauerhaftigkeit der Entscheidung zum Suizid müssten gemäß der diskutierten Gesetzesentwürfen vorliegen; deren Feststellung sei jedoch häufig schwierig. Die häufig genannten drei Monate Entscheidungszeit seien in der Praxis teils noch nicht einmal genug, um für Depressive Zugang zu einer Therapie zu erhalten – die die Suizidalität verhindern könnte.

Stärkung der Prävention nötig

Auch die „rationalen“ Gründe zur Selbsttötung beleuchtete Grosselli kritisch. Gemäß der „interpersonalen Theorie“ seien die zwei Hauptgründe für den Suizid die Überzeugung eine Belastung für andere zu sein, und anderen Menschen egal zu sein. Aus Sicht der Suizidprävention sei es problematisch, wenn im Zuge der gesellschaftlichen und gesetzlichen Neuorientierung in Richtung einer autonomeren Gestaltung des eigenen Lebensendes beispielsweise mit Werbung für Sterbehilfevereine suggeriert werde, es sei „cool sich das Leben zu nehmen, ein totaler Ausdruck von Freiheit“. So etwas könne die Überzeugung verstärken, es sei wichtig, anderen nicht zur Last zu fallen – schließlich gebe es ja einen Ausweg.

Was also tun? Grosselli sprach sich einerseits dafür aus, bei der gesetzlichen Neuregelung die Fristen für die Dauerhaftigkeit tendenziell länger zu fassen. Auch sei eine Beurteilung der Freiheit des Willens durch ausgewiesene Fachleute, etwa Psychiater, wichtig. Zentral sei aber auch die Stärkung der Suizidprävention, durch mehr psychotherapeutische Behandlungsplätze, mehr Telefonseelsorge, aber auch bessere Information über Palliativ-Pflege und Hospize für diejenigen, die tatsächlich unter einer rasch zum Tode führenden organischen Erkrankung litten. (DT/jra)

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