Bilder, die zu Tränen rühren: Blutüberströmte Zivilisten stehen geschockt auf den Straßen, Kinder weinen sich in U-Bahn-Schächten und Kellern in den Schlaf. Es ist Krieg in Europa – und die Europäer schauen nicht weg. In Kirchen und Schulen werden Hilfspakete für die Ukraine gesammelt. Die Menschen haben in ihrer Hilfsbereitschaft nicht erst auf ihre Staaten gewartet. Aber auch die EU und ihre Mitgliedsländer helfen mit Summen, die kurzfristig und erstaunlich unbürokratisch locker gemacht werden.
Großzügige Aufnahme
Seit der Migrationskrise 2015/16 rümpfen viele Westeuropäer die Nase über Polen, Ungarn und die Slowakei, die sich damals gegen Quoten in der Flüchtlingsverteilung stemmten. Dieselben Westeuropäer dürfen nun den Hut vor den Polen, Ungarn und Slowaken ziehen. Hier nämlich finden die mehr als 700.000 Ukrainer – Kinder, Frauen und Greise – Zuflucht, die dem brutalen Eroberungskrieg gewichen sind und ihre kämpfenden Väter, Ehemänner und Söhne zurückließen.
Etwa die Hälfte aller Schutzsuchenden wurde in Polen aufgenommen. So turbulent das Verhältnis zwischen den beiden Nationen historisch auch war, das werden die Ukrainer ihren westlichen Nachbarn nie vergessen. Kein Dialog oder gelehrtes Symposion könnte je so radikal mit Vorurteilen und Vorverurteilungen aufräumen wie dieser Akt der Menschlichkeit. Wahre Größe spiegelt sich nicht in Worten, gewiss nicht in Waffenarsenalen und nicht einmal in den Summen, die jetzt aufgebracht werden. Sie zeigt sich an der Mitmenschlichkeit in der Stunde tiefster Not – in diesem Fall im Kampf der Ukrainer um ihr Überleben, ihre Freiheit und ihre Heimat in Europa.
Eine Überraschung
„Jeder, der in Sorge um sein Leben und seine Gesundheit die polnische Grenze überschreitet, wird aufgenommen und mit Essen und Unterkunft versorgt“, sagte Polens Außenminister Zbigniew Rau am Dienstag. Da rechnete Warschau bereits mit einer Million ukrainischen Flüchtlingen. Jeden aufzunehmen, keinen abzuweisen, nicht sogleich nach Flüchtlingsumverteilung und Brüsseler Geld zu rufen: Wer hätte das der polnischen Regierung zugetraut?
Doch wiederum muss sich die Europäische Union als Solidargemeinschaft erweisen: Solidarisch mit der Ukraine muss sie den Opfern von Putins Eroberungskrieg ebenso helfen wie den Helfern – den privaten wie den staatlichen. Wie die Migrationskrise 2015/16 die Europäer spaltete, könnte die Migrationskrise 2022 sie in Solidarität einen und versöhnen.
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