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Netanjahu legt sich mit Amerika an

Die Zwei-Staaten-Lösung ist für den israelischen Regierungschef seit dem 7. Oktober keine Option mehr, doch die USA und die EU halten weiter an dieser Vision fest.
Gegen Zwei-Staaten-Lösung: Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu
Foto: IMAGO/JINI (www.imago-images.de) | Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu hat Washington auf offener Bühne provoziert, indem er eine Zwei-Staaten-Lösung als langfristiges Ziel ausschloss.

Israels Vorgehen im Gazastreifen brüskiert mittlerweile auch seinen engsten und wichtigsten weltpolitischen Verbündeten, die USA. Und jetzt hat Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu Washington auch noch auf offener Bühne provoziert, indem er eine Zwei-Staaten-Lösung als langfristiges Ziel ausschloss. Dabei hatten die USA ebenso wie die Europäische Union den fragilen Status Quo stets mit Blick auf genau diese Vision unterstützt. Selbst jetzt halten die Entscheidungsträger in Washington und Brüssel dezidiert am Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung fest.

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Warum wagt der gewiefte Machtpolitiker Bibi Netanjahu in dieser heiklen Kriegs- und Stimmungslage die offene Konfrontation mit den USA? Da ist zunächst der Taktiker: Seit dem traumatisierenden 7. Oktober sind die Umfragewerte für den politischen Überlebenskünstler Netanjahu und seinen Likud-Block dramatisch gesunken. Da ist es angesichts des verwundeten Sicherheitsgefühls nur naheliegend, sich der eigenen Bevölkerung als Garant eines starken, wehrfähigen, ja unnachgiebigen Staates zu präsentieren. Zudem weiß Netanjahu aus jahrzehntelanger Erfahrung, dass die USA Israel mitten in einem heißen Wahljahr nicht fallen lassen können.

Rückzug bringt Terror

Jenseits aller Taktik hat Netanjahu aber auch gute Argumente: „Aus jedem Gebiet, aus dem wir uns zurückziehen, bekommen wir Terror, schrecklichen Terror“, sagte er mit Blick auf den Süd-Libanon, den Gazastreifen und Teile des Westjordanlandes. Darum brauche Israel langfristig die „Sicherheitskontrolle“ über das gesamte Gebiet westlich des Jordan. Falsch ist das nicht: Weder hat es die Palästinensische Autonomiebehörde geschafft, im Westjordanland den Nukleus einer seriösen palästinensischen Eigenstaatlichkeit zu schaffen, noch hat die Hamas im Gazastreifen einen Palästinenserstaat geschaffen, der zu einer friedlichen Koexistenz mit Israel bereit wäre. 

Die Schuld dafür lässt sich auf viele – israelische, palästinensische und andere – Schultern verteilen, aber das Faktum bleibt: Wenn Israel einer palästinensischen Eigenstaatlichkeit Raum gibt, wachsen die Sicherheitsrisiken, weil unter der palästinensischen Bevölkerung Leid, Hass und Rachegefühle gewaltig sind, weil die Jerusalem-Frage ungelöst bleibt und weil externe Mächte gerne Öl in jede Glut kippen. Kein Wunder, dass nach dem 7. Oktober, der die schlimmsten Horrorszenarien übertraf, eine Zwei-Staaten-Lösung für Israel nicht auf der Tagesordnung steht, ja nicht einmal als Vision akzeptiert wird.

Garantiemächte gesucht

Doch mit Blick auf das regionale Eskalationspotenzial insistieren Israels Freunde in Washington und Brüssel weiter auf dieser Vision: US-Präsident Joe Biden und sein Außenminister Antony Blinken haben ebenso wie der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell klargestellt, dass ein unabhängiger Palästinenserstaat neben Israel ihr Ziel ist und bleibt, wenn auch wohl nach der Ära Netanjahu.

Langfristig wird also die Schlüsselfrage sein, ob die USA und die EU auch die Garantie und Aufsicht über einen solchen Palästinenserstaat übernehmen können, der notwendigerweise völlig demilitarisiert sein müsste. Den Vereinten Nationen wäre eine solche Patronage jedenfalls nicht zuzutrauen, den arabischen Nachbarn Ägypten und Jordanien nicht zuzumuten.

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