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Mutti Merkel und die verzogenen Deutschen

Ein Kind der Merkel-Ära müsste der Alt-Kanzlerin besonders dankbar sein. Aber die AfD wird Mutti wahrscheinlich keinen Blumenstrauß schicken.
Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel
Foto: IMAGO/Christian Spicker (www.imago-images.de) | Angela Merkel, die heute 70 Jahre alt wird, bekam von Freund wie Feind den Spitznamen „Mutti“.

Es geistert ein Phänomen durch die Erziehungsratgeber: Die Ja-Sager-Eltern. Darunter sind Mamas und Papas zu verstehen, die ihrem Nachwuchs einfach keine Grenzen setzen können. Jeder Wunsch des Kindes ist ihnen Befehl. Am Ende stehen dann verzogene kleine Haustyrannen. Angela Merkel, die heute 70 Jahre alt wird und von Freund wie Feind den Spitznamen „Mutti“ bekam, hat in ihrer Politik auf ähnliche Prinzipien gesetzt. Und am Ende ihrer Regierungszeit, so gerecht ist das Leben, musste sie auch die Folgen ausbaden. 

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Merkel erwies sich in ihrer Regierungspraxis als Konservative. Jetzt werden ihre Gegner natürlich sofort aufschreien: Sie, eine Konservative? Ja, allerdings nicht in Form einer Agenda eines klassischen Konservatismus, sondern ihr Ziel war die Erhaltung des gesellschaftlichen Status quo der Bundesrepublik um die Jahrtausendwende. Bloß keine Zumutungen, sondern das erhalten und bewahren, was der Großteil der Bevölkerung erhalten und bewahren wollte. „Keine Experimente“ – das sah in diesem Deutschland nur anders aus als in den 50er Jahren. Es war das Bekenntnis zur vorsichtigen Moderne – das heißt, irgendwie modern sein, gerade so sehr, dass es nicht tatsächliche Veränderungen erfordert. Bequem leben, ohne das Gefühl haben zu müssen, rückständig zu sein. Das war das Lebensgefühl, und entsprechend betrieb Angela Merkel ihre Politik. 

„Sie kennen mich“ – so war der Vertrag überschrieben

Die Vorstellung von Alternativlosigkeit bedeutete denn auch nicht, dass für diese Kanzlerin politische Alternativen nicht denkbar gewesen wären. Merkel folgte vielmehr der Einsicht, dass der Großteil der Bevölkerung keine Alternativen wünschte. Das war der unausgesprochene Deal zwischen Merkel und ihrem Wahlvolk. „Sie kennen mich“ – so war der Vertrag überschrieben. Es war kein Zufall, dass sie Wahl um Wahl gewann, 2013 sogar fast die absolute Mehrheit erreichte. 

Erst in der Flüchtlingskrise kam dieses Übereinkommen ins Trudeln. Anfangs schwamm sie auch hier durchaus auf einer positiven Welle. „Wir schaffen das“ – als die Kanzlerin das sagte, konnte sie durchaus in der bürgerlichen Mitte damit Punkte machen. Doch dann wurde Merkel plötzlich trotzig. Als die Kritik immer größer wurde, war sie nicht bereit, den Kurs zu ändern. Man kann auch sagen: Hier zeigte sie plötzlich Führungsstärke. Plötzlich galt nicht mehr ihr Grundsatz, es könne in der Politik nur darum gehen, auf Sicht zu fahren. Merkel drückte aufs Gaspedal.

Mit Blick auf die Ära Merkel will keine Nostalgie aufkommen

Immer mehr Menschen haben im Rückblick das Gefühl, dass der Wagen Deutschland seither vom Weg abgekommen ist. Dies ist der Grund, warum keine wirkliche Nostalgie mit Blick auf die Ära Merkel aufkommen will. Die Ampel-Regierung in allem ihrem Chaos wird vielmehr als Fortsetzung verstanden, eine Dekade, die irgendwann zwischen Flüchtlings- und Corona-Krise in der letzten Phase der Merkel-Ära bereits begann. Ob Deutschland irgendwann wieder in den Tritt kommt, es wird die Zukunft zeigen. 

Eines kann aber schon gesagt werden. Vor allem eine politische Kraft ist der Alt-Kanzlerin zur Dankbarkeit verpflichtet. Ohne die Fehler Merkels im letzten Drittel ihrer Amtszeit würde es die AfD nicht geben. Eigentlich müssten ihr Alice Weidel und Tino Chrupalla einen Blumenstrauß schicken. Ob Mutti ihn annehmen würde?

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