Einhellig verurteilen die westlichen Verbündeten Israels (andere hat das Land ja nicht mehr) die iranischen Raketenangriffe von letzter Nacht. Hoffentlich aber waren sie nicht so naiv, davon überrascht zu sein, denn die Regierung Netanjahu hatte mit der gezielten Ermordung von engen Gefolgsleuten des Iran im Libanon, in Syrien, im Irak und sogar im Iran selbst eine militärische Reaktion Teherans geradezu provoziert. Nach orientalischen Maßstäben war die iranische Führung gezwungen, Muskeln zu zeigen, um nicht völlig das Gesicht und die Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Neben der im Westen unterschätzten psychologischen Dimension gibt es auch eine realpolitische: Der desaströse Einmarsch der USA im Irak 2003, die westlichen Illusionen über den „Arabischen Frühling“ 2011 und eine fatale Fehlbehandlung Syriens haben es Teheran ermöglicht, seinen Einfluss bis zum Mittelmeer auszudehnen. Der Iran hat seine Finger im Irak, in Syrien wie im Libanon im Spiel. Israels Premier Netanjahu weiß das nicht nur, sondern hat das sogar jüngst in seiner Rede vor den Vereinten Nationen in New York dargelegt. Diese Einflusszone will und kann sich Teheran nicht von Israel zerstören lassen.
Nicht bloß aus Prestige-, sondern auch aus Machtgründen konnte die iranische Führung also nicht tatenlos zusehen, wie Israel die Hisbollah (die im Libanon Miliz und Partei ist) enthauptet, den Libanon völlig zerlegt, Hunderttausende zur Flucht zwingt und die arabischen Nachbarländer destabilisiert.
Teheran bevorzugt die Maulheldenrolle
Gleichzeitig sendet Teheran – wie schon nach den symbolischen Militärschlägen im April – deutliche Signale, dass es an einem offenen Krieg gegen Israel nicht interessiert ist. „Unsere Aktion ist abgeschlossen“, schrieb Irans Außenminister Abbas Araghtchi auf der Plattform X. Natürlich um, der Gesichtswahrung wegen, hinzuzufügen: „… es sei denn, das israelische Regime beschließt, zu weiteren Vergeltungsmaßnahmen aufzurufen“. Kein Zweifel: Der Iran, der rhetorisch stets die Vernichtung Israels und Amerikas propagiert, würde sich in der Maulheldenrolle ganz wohl fühlen. Militärisch möchte sich Teheran mit Schattenboxen und Nadelstichen – ausgeführt durch Stellvertreter, die sogenannten Proxys – bescheiden.
Jetzt nicht auf militärische Eskalation zu setzen, sondern sich darüber zu freuen, dass fast alle iranischen Hyperschallraketen abgefangen wurden und der Schaden relativ gering blieb, wäre jedenfalls auch im Interesse Israels. Ein direkter Krieg zwischen Israel und dem Iran hätte für beide Seiten, für die gesamte Region und – da Amerika hinter Israel, aber Russland hinter dem Iran steht – auch für die Welt unabsehbare Folgen. Wer also die Raketenangriffe des Iran auf Israel verurteilt, der sollte zugleich auch Netanjahu zur Mäßigung mahnen.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.