Herr Kommissar Brunner, vor zehn Jahren erschütterte und überforderte die Migrationskrise die EU und ihre Mitgliedstaaten. Ist der damalige Kontrollverlust mittlerweile überwunden?
Wir haben in den letzten zehn Jahren, also vom Beginn der Flüchtlingskrise bis jetzt, als Europäische Union sehr viel Verantwortung übernommen. Wir haben Humanität gegenüber Menschen, die oft vor katastrophalen Bedingungen in ihren Heimatländern geflüchtet sind, gezeigt. Was gefehlt hat, war ein funktionierendes europäisches Regelwerk. Wir hatten kein System; es hat uns die Kontrolle gefehlt. Genau aus diesen Fehlern haben wir gelernt. Letztes Jahr haben sich die EU-Mitgliedstaaten auf eine umfassende Reform des Asyl- und Migrationssystems geeinigt. Damit schaffen wir ein modernes Migrations-Management-System und bringen unser europäisches Haus in Ordnung. Wir erlangen so die Kontrolle darüber, was in Europa passiert.
Die damals entstandene Spaltung der Gesellschaften wie unter den Regierungen der EU-Mitglieder ist bis heute nicht überwunden. Polarisierung hier wie dort. Wie wollen Sie das sanieren?
„Wir müssen selbst entscheiden, wer zu uns
kommen darf und wer Europa wieder verlassen muss,
und nicht kriminelle, menschenverachtende Schlepper"
Wir müssen Migration so gestalten, dass das Miteinander gelingt und die Menschen, die zu uns kommen, legal kommen und auch integriert werden können. Die europäische Migrationswende zeigt da bereits Ergebnisse. Die Zahl der illegalen Grenzübertritte ist dieses Jahr um 21 Prozent und letztes Jahr um 37 Prozent gesunken, auf manchen Routen sogar um 95 Prozent. Wir müssen selbst entscheiden, wer zu uns kommen darf und wer Europa wieder verlassen muss, und nicht kriminelle, menschenverachtende Schlepper. Das ist wichtig, um Verständnis in der Bevölkerung für legale Migration, also Arbeitsmigration, zu stärken. Denn die brauchen wir dringend für unsere Wettbewerbsfähigkeit. Entschlossen und fair, das ist unser Leitmotiv. Denn eine starke Migrationspolitik zielt nicht darauf, die nächste Wahl zu gewinnen. Es geht darum, unsere Werte und das soziale Gefüge unserer Gesellschaft zu bewahren. Da kommt auch den Kirchen in Europa als Orten der Begegnung eine besondere Bedeutung zu. Gerade in einer vielfältigen, offenen Gesellschaft verbinden sie statt zu spalten, bauen Brücken zwischen Kulturen, Generationen und verschiedenen sozialen Gruppen.
Welche Lehren zieht die EU-Kommission aus der Migrationskrise?
Wir brauchen Regeln, die funktionieren. Jetzt sind wir dabei, für den Start im Juni 2026 alles vorzubereiten. Das neue System hat konkrete Vorteile. Alle, die illegal an unseren Außengrenzen ankommen, unterliegen ausnahmslos einer Identitätsprüfung, einer Sicherheitsüberprüfung und einer Registrierung in unseren EU-Datenbanken. Wer keine Aussicht auf Schutz hat oder kriminell ist, darf unser Asylsystem nicht missbrauchen. Solche Anträge müssen beschleunigt und direkt an der Grenze entschieden werden. Genau das bringt die Reform. Wer europäische Asylregeln missachtet und illegal im Schengenraum weiterwandert, wird ab Sommer 2026 konsequent an die Grenze zurückgeschickt. Das wird eine Wirkung haben. Dafür unterstützen wir auch die EU-Staaten an der Grenze.
Die Herausforderungen sind geblieben: den Terror zu bekämpfen, die Außengrenzen zu sichern, die Migration zu managen. Welche Strategien haben Sie da in der Schublade?
„Auch der Konflikt im Nahen Osten hat Auswirkungen
auf uns, etwa durch zunehmenden Extremismus"
Sicherheit, Grenzschutz und Migration fallen nicht nur in mein Ressort, sie gehören zu den drängendsten Aufgaben auf europäischer Ebene. Das spiegelt sich im Vorschlag zum nächsten EU-Budget wider. Unsere Mittel sollen auf 81 Milliarden Euro verdreifacht werden, denn die Herausforderungen unserer Zeit machen an keiner Grenze halt - wir müssen sie gemeinsam angehen. Wir erleben Cyberangriffe auf Flughäfen, Sabotageakte, gezielte Desinformation, oft gesteuert aus Russland. Auch der Konflikt im Nahen Osten hat Auswirkungen auf uns, etwa durch zunehmenden Extremismus. Wir haben in unserer Strategie zur inneren Sicherheit dargelegt, wie wir die Mitgliedstaaten besser unterstützen können im Kampf gegen diese Bedrohungen, durch besseren Datenaustausch und Unterstützung bei der Umsetzung von Maßnahmen zur Sicherung von kritischer Infrastruktur – sei es online oder offline. Grenzschutz ist selbstverständlich zentral. Wir werden die Grenzschutzagentur Frontex besser ausstatten und das Personal aufstocken. Wir wollen auch erreichen, dass Frontex noch mehr an die Erfolge außerhalb der EU anknüpfen kann und wir das Mandat in Drittstaaten ausweiten können. Denn das ist neben den Gesetzen, die wir hier bei uns im Bereich Migration auf den Weg gebracht haben, der weitere wichtige Punkt: Wir müssen unsere Migrationsdiplomatie ausbauen. Umfassende Zusammenarbeit mit Ländern entlang der Migrationsrouten zur Bekämpfung illegaler Migration, zum Schutz von Menschen vor Ort und zum Ausbau legaler Wege in die EU ist der beste Weg, um unsere Ziele zu erreichen.
Russland und Belarus instrumentalisieren Migration und Verunsicherung, um die Spaltung Europas und die Polarisierung der Gesellschaft voranzutreiben. Wie reagiert die EU darauf?
Diese Instrumentalisierung ist tatsächlich eine große Bedrohung. Da wird Migration als Waffe genutzt. Das sind ernsthafte Bedrohungen für unsere Sicherheit und territoriale Integrität. Ich habe selber an der polnisch-weißrussischen Grenze erlebt, wie weißrussische Sicherheitsbehörden mit Menschen an die Grenze gekommen sind, dort den Zaun aufgeschnitten haben und diese Menschen rübergeschoben haben. Was hier mit Menschen gemacht wird, ist nicht akzeptabel. Wir lassen die Länder, die davon betroffen sind, nicht allein. Es ist ja nicht nur das Land selbst, sondern der gesamte Schengenraum und am Ende die EU davon betroffen. Wir haben Gelder zur Verfügung gestellt, zuletzt 170 Millionen Euro für die Länder im Baltikum sowie Polen und Finnland, um die Überwachung zu intensivieren, und wir haben auch bei der rechtlichen Handhabe unterstützt.
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