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Kurt Georg Kiesinger: Mehr als nur eine Ohrfeige

„Häuptling Silberzunge“, Großstadtkatholik, Intellektueller: Vor 120 Jahren wurde Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger geboren.
President  Lyndon  Baines  Johnson  and  Chancellor  Kurt  Georg  Kiesinger  standing  at  podium,
Foto: IMAGO/xLIFE_Picture_Collectionx (www.imago-images.de) | Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger im Beisein von US-Präsident Lyndon B. Johnson auf US-Staatsbesuch im August 1967.

„Weltoffene Katholizität und glanzvolle Urbanität“ bescheinigt der Politikwissenschaftler Dieter Oberndörfer in einer Festschrift zu dessen 80. Geburtstag dem dritten Kanzler der Bundesrepublik. Kurt Georg Kiesinger, am 6. April 1904 in Ebingen auf der Schwäbischen Alb geboren, ist freilich im öffentlichen Gedächtnis heute fast ausschließlich mit dem tätlichen Angriff auf ihn verbunden, mit dem die Aktivistin Beate Klarsfeld nach eigener Aussage die Wut der Jugend auf die personelle Kontinuität zwischen NS-Zeit und der BRD zum Ausdruck bringen wollte. 

Ein vergessener Kanzler

Zwischen den Kanzlern der inneren (Adenauer) und tatsächlichen Emigration (Brandt) und ohne die Popularität eines Ludwig Erhard stellt sich Kiesingers subordinierte Tätigkeit im Auswärtigen Amt mit Kontakt zum Reichspropagandaministerium wohl tatsächlich als größte Vergangenheitsbelastung dar, die der Stellung des Bundeskanzlers seitens ihres Trägers aufgebürdet wurde. Gegenüber anderen Regierungsverantwortlichen in den Anfangsjahren der Bonner Republik nimmt sich diese persönliche Belastung des Kanzlers, die sich auf die Überwachung von ausländischen Radiosendern beschränkte, jedoch beinahe marginal aus. Es ist die historische Tragik von Kiesingers Kanzlerschaft, dass solche NS-Verstrickungen, nicht zuletzt auch die mancher seiner Kritiker, erst in den letzten Jahrzehnten aufgedeckt und in der Öffentlichkeit diskutiert wurden. Das Interesse an einer Ehrenrettung des 1988 Verstorbenen verlief seit jeher diametral zur Unbeliebtheit der ersten Großen Koalition von CDU/CSU und SPD, der Kiesinger von 1966 bis 1969 als Kanzler vorstand.  

Über diesen unglücklichen Schatten und dem unter dem Schlagwort „1968“ fassbaren Epochenwechsel ist die komplexe Gestalt des Juristen, heimatverbundenen Schriftstellers und katholischen Verbindungsstudenten selbst seiner eigenen Partei in Teilen fremd geworden. Nicht nur Qualitäten wie die von Oberndörfer gerühmte Katholizität und Urbanität verloren ab Ende der 1960er-Jahre rapide an Wertschätzung in der Öffentlichkeit. Kiesingers Beredsamkeit fern jeder populistischen Anbiederung, die ihm als Bundestagsabgeordneter den Titel „Häuptling Silberzunge“ einbrachte, aber bereits seit der Studentenzeit in Tübingen und vor allem Berlin seinen Aufstieg aus kleinsten Verhältnissen mitermöglichte, das nicht vorgetäuschte Gefallen an der Beschäftigung mit Wissenschaft und Kunst, eine gewisse Grandezza – Berater des Kanzlers raunten darüber, dieser trage das Amt „wie einen Hermelin“ – im persönlichen Umgang und öffentlichem Auftritt – was Kiesinger ursprünglich zu einem Vermittler zwischen verschiedenen Interessensgruppen, zwischen den Konfessionen und Schichten, zwischen Geist und Macht prädestinierte, verspielte in einer nivellierenden Mittelmaßgesellschaft jeden Kredit und wurde bereits beim Tod des Kanzlers von Weggefährten und Parteifreunden als höchstens sympathisches Relikt einer fernen Zeit empfunden.

Eine Neubewertung Kiesingers ist überfällig

Doch eine Würdigung des nicht nur politischen Lebenswegs und der gesellschaftlichen Ideen Kiesingers lohnt heute vielleicht mehr als vor vierzig Jahren. Der Sohn einer katholischen Mutter und eines pietistischen Vaters berichtet in seinen Memoiren von dem tiefen Eindruck, den er von beiden Glaubenswelten, in der Abgeschiedenheit der Alb noch in ihrem Gegensatz und ihrer klaren Ausprägung erhalten, empfing. Mit unermüdlichem Fleiß unternahm es der begabte Junge, das älteste von neun Kindern, zunächst auf dem Lehrerseminar in Rottweil, dann im Studium der Pädagogik in Tübingen und schließlich der Rechtswissenschaft in Berlin seine Anlagen entgegen den schwierigen Umständen seiner Herkunft zu verwirklichen. Die Vita Kiesingers steht hier gegenüber den ärmlichen Herkunftsbedingungen mancher sozialistischen Parteifunktionäre kaum zurück. Doch die Politik war für ihn lange Zeit zweitrangig: Der spätere Bundeskanzler empfand es als Geschenk, sich in den freien Stunden des Studiums gründlicher mit der Gegenwartskultur auseinanderzusetzen. Kontakte zu hochgestellten Persönlichkeiten, die er in Berlin knüpfen konnte, waren ihm weniger Mittel zum Zweck des persönlichen Vorankommens als Bedingung für eine vollständige Erfassung der gesellschaftlichen Phänomene der mitunter orientierungslos wirkenden Weimarer Republik.

Kiesinger begriff schon als kleinere Gedichte und Beiträge publizierender Schüler und Student die Welt der Literatur, der Philosophie und der Künste als ein Privileg des Gebildeten, das dieser indes vor Gott und den Menschen verantwortungsvoll zu gebrauchen hatte. In die „wirkliche Welt“ hinausreichende Kontakte mit charismatischen Persönlichkeiten wie dem „Großstadtapostel“ Carl Sonnenschein waren es dann auch, die Kiesinger für die Lebensbedingungen des Berliner Proletariats sensibilisierten und damit langfristig zum aktiven politischen Engagement brachten. Doch stets blieb das ideengeschichtliche Fundament des begeisterten Tocqueville-Lesers eine „christliche Demokratie“, in der geteilte Wertvorstellungen und nicht allein wirtschaftliche Verteilungskämpfe den sozialen Ausgleich garantierten. Für den dritten Bundeskanzler der Budesrepublik bedeutete die Politik zwar den eigenen Beruf, niemals aber ein sich selbst verwirklichendes Berufsziel oder gar vornehmlichen Lebensinhalt darzustellen vermochte.

Weltläufiger Freund von Kunst und Kultur

Bleibende Bedeutung hat, durchaus aussagekräftig für seine in Politik wie Wissenschaft beheimatete Person, mehr als seine Kanzlerschaft vor allem seine Zeit als Ministerpräsident Baden-Württembergs von 1958 bis 1966 erlangt. Als einer der frühesten und vehementesten Verfechter der Gründung eines „Südweststaates“ setzte sich Kiesinger für die Neugründung der Universitäten in Ulm und Konstanz ein, die heute zu den forschungsstärksten Institutionen Deutschlands zählen. Es ist fast zu bedauern, dass er neben der Herausgabe seiner Reden und kleineren Essays vor seinem Tod nicht mehr zu den beiden, für ihn sicherlich höchsten Ehren aufsteigen konnte: dem – von vielen Parteifreunden gewünschten – Amt des Bundespräsidenten und der Herausgabe eines über lange Jahre geplanten Tocqueville-Buchs.

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