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Karin Prien: „Wir dürfen auch Israels Regierung kritisieren"

Die stellvertretende CDU-Vorsitzende Karin Prien plädiert bei einem Podium zur jüdischen Diaspora-Situation für eine empathische Haltung gegenüber Opfern.
Schleswig-Holsteinischen Bildungsministerin Karin Prien
Foto: Patrick Lux (www.patrick-lux.de) | Vertritt die Einstellung, dass die zivilen Opfer im Gaza-Streifen Mitleid und Unterstützung verdienten: Schleswig-Holsteinischen Bildungsministerin Karin Prien.

Bei einer hochkarätig besetzten Podiumsrunde, die das Dilemma der jüdischen Diaspora-Situation thematisierte, wurde am Freitagabend in den Hamburger Deichtorhallen die komplizierte Stellung der Juden in der Welt debattiert. 

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Sonja Lahnstein-Kandel, seit Jahren mit ihrer Initiative „Bridging The Gap“ für die Unterstützung des privat finanzierten Israel Museum in Jerusalem aktiv, hatte neben der stellvertretenden CDU-Vorsitzenden und Schleswig-Holsteinischen Bildungsministerin Karin Prien auch Israels früheren Botschafter in Berlin, Shimon Stein eingeladen. Außerdem dabei: Mirjam Wenzel vom Frankfurter Jüdischen Museum, Albert Wiederspiel, Leiter des Filmfests Hamburg bis 2023 sowie der international renommierte Musiker-Troubadour Daniel Kahn, derzeit unter anderem im Programm des Berliner Gorki-Theaters zu erleben.

„Die Opferperspektive verstellt den Blick für das Großartige"

Mirjam Wenzel, die das das älteste Jüdische Museum der Bundesrepublik Deutschland repräsentierte, stellte die Diaspora-Situation als konstitutiv für das Judentum und sein Bewusstsein in Geschichte und Gegenwart dar. Die Honorarprofessorin am Seminar für Judaistik der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Gastprofessorin an der Bauhaus-Universität Weimar betonte, dass man Juden und ihre zentrale Rolle in der Kultur ins Zentrum der Wahrnehmung stellen müsse: „Die Opferperspektive verstellt den Blick für das Großartige, was uns durch das Jüdische Volk geschenkt wurde.“

Auf die Frage von Sonja Lahnstein, warum sich die Feuilletons in Deutschland gerade derart intensiv an Themen mit jüdischen Bezügen abarbeiten, erklärte Wenzel: „Das liegt daran, das in der Geschichte nahezu jeder Kulturbereich entscheidend von jüdischen Künstlern und Akteuren bestimmt wurde, in Musik und Literatur, Theater, Film und Bildender Kunst!“

Mit einem Herforder verheiratet, plauderte Film- und Kinoexperte Wiederspiel über urpersönliche Erfahrungen: „Ich war für die Verwandten meines Ehemanns der erste Jude, den sie jemals kennengelernt haben.“ Dabei gibt es in Deutschland heute immerhin 220.000 Juden, in Israel über sieben Millionen. Weltweit leben noch einmal mehr als 7,5 Millionen Juden verteilt über alle Kontinente, viele in den USA.  

Klare Haltung gegen Gewalt und Terror artikulieren

Der Musiker Daniel Kahn stammt aus Detroit, Michigan. Er erklärte: „Ich bin ein jüdischer Atheist, das letzte, an das ich glaube, ist der Gott des Alten Testaments!“ Dabei trug er ein eigenes, musikalisches „Testament“ vor und thematisierte in einem Poem den „Wandering Jew“, der in der Welt – und doch nirgends – zu Hause ist. Damit, so mutmaßte Kahn, steckt in jedem von uns etwas Jüdisches: „Es gibt keine Wurzeln, Menschen sind unterwegs, politische Grenzen sind immer in Bewegung!“

Die stellvertretende CDU-Vorsitzende Karin Prien lobte im Gespräch beim anschließenden Shabbath-Dinner die Position ihrer Partei nach dem 7. Oktober: „Ich glaube, da hat sich einiges geklärt.“ Besonders gefreut habe sie als Beobachterin, dass ein zwischenmenschliches Mitgefühl auch bei palästinensischen, nicht-jüdischen Israelis zu verzeichnen sei: „Empathie ist keine Frage von Politik.“ Man müsse vor allem aus einem menschlichen Mitgefühl eine klare Haltung gegen Gewalt und Terror artikulieren.

Auch vertritt Prien die Einstellung, dass die zivilen Opfer im Gaza-Streifen Mitleid und Unterstützung verdienten, wie sie gegenüber der „Tagespost“ erklärte. Und: „Selbstverständlich dürfen und müssen wir, wenn nötig, auch die israelische Regierung kritisieren!" Das bedingungslos gültige Bekenntnis zum Existenzrecht Israels sei davon unberührt. Auch Moshe Dajan, der legendäre israelische General, habe 1956 in einer berühmten Rede ein gewisses, natürliches Verständnis für die palästinensische Position geäußert, allerdings auch die daraus resultierende jederzeitige Verteidigungsbereitschaft Israels angemahnt.

Israels früherer Botschafter: „Netanjahu muss weg"

Israles früherer Deutschland-Botschafter Shimon Stein betonte seine Rolle als Israeli, der aus seinen persönlichen Verhältnissen keine Diaspora-Position ableiten könne. Stein versuchte aber, die Bedenken zu zerstreuen, dass Israel nach dem 7. Oktober keine sichere Zuflucht für Juden in aller Welt darstellt „Der Terroranschlag vom 7. Oktober war ein politischer Betriebsunfall und keine zwangsläufige Entwicklung!“ In einem RND-Interview erklärte Stein unmittelbar vor der Hamburger Veranstaltung in den Deichtorhallen: „Netanjahu muss weg – um einen neuen Anfang zu ermöglichen“. Eine reformierte Palästinensische Autonomiebehörde müsse künftig Gaza regieren, die Freilassung der Geiseln hätte aber vorher oberste Priorität. Netanjahu könne nicht das ganze Land in Geiselhaft nehmen, um politisch zu überleben.

Bei der Podiumsdiskussion selbst, so resümierte Sonja Lanhstein zum Schluss, sei der Name Netanjahu zum Glück kein einziges Mal gefallen. Tatsächlich ging es um das Dilemma der Diaspora – das in der Welt verstreute jüdische Volk, das sich kaum so verhalten könne, dass es eine einzige, richtige Position einnähme. 

Die Diaspora, der verstreute Samen, sei eine agrarische Metapher, wie der Atheist Daniel Kahn weiter erläuterte: „Sind letztlich alle Menschen, genau wie die Juden, in die Welt gestreut?“ Als Jude, als Mensch überall unbehelligt leben zu können, sei nicht verhandelbar. „The Jew in you“ – Kahns programmatischer Auftaktsong fasste diese Einstellung in ein musikalisch-poetisches Bild, das viele der 150 Gäste an einem regnerischen Hamburger Abend mit nach Hause nahmen.

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