Spätestens um die Jahrhundertwende war er jeder Parteipolitik, aber auch den nationalen Interessen völlig entrückt. Jacques Delors galt transnational und lagerübergreifend einfach als „großer Europäer“, ja vielleicht sogar als der Letzte der legendären „Väter Europas“. Am Mittwoch starb der Franzose, der neben Helmut Kohl zum „Ehrenbürger Europas“ gekürt worden war, im Alter von 98 Jahren, wie seine Tochter Martine Aubry bekanntgab.
Längst verweht, von späteren Verdiensten überlagert ist Jacques Delors innenpolitische Karriere samt ihrer Brüche und Niederlagen. Immerhin war er unter dem sozialistischen Präsidenten François Mitterrand von 1981 bis 1984 Wirtschafts- und Finanzminister. Und dabei nicht nur erfolgreich: Mitterrand zwang ihn nach mehreren Abwertungen des französischen Francs zu einer finanzpolitischen Kehrwende. Der Präsident fürchtete, sein Land werde aus dem Europäischen Währungssystem fallen.
Aber vielleicht war diese Achterbahnfahrt eine wichtige Erfahrung, denn als Präsident der EU-Kommission (1985 bis 1995) war es Delors, der die wirtschafts- und finanzpolitische Vertiefung des vereinten Europas kraftvoll und erfolgreich vorantrieb. Unter seiner Führung wurde der europäische Binnenmarkt vollendet und die Währungsunion auf Schiene gebracht. Es war – trotz der Widerstände aus London – ein Zeitalter echter Reformen in Europa. Das vereinte Europa war nach der Ära Delors und durch den „Vertrag von Maastricht“ fit für die damals gerade bevorstehende, epochale Herausforderung: die Aufnahme jener mittel- und osteuropäischen Staaten, die das kommunistische Joch eben abgeschüttelt hatten.
Aus katholischem Hause
Weniger bekannt ist, dass der 1925 in Paris geborene sozialistische Politiker aus katholischem Hause stammte, als Schüler in der christlichen Arbeiterjugend und später beim christlichen Gewerkschaftsbund engagiert war. Der Sozialistischen Partei trat er erst 1974 bei; fünf Jahre später gehörte er ihrem Parteivorstand und dem Europäischen Parlament an. Seine christliche Prägung hat der bewusste Sozialpolitiker aber nie ganz abgestreift.
Bis heute zitieren Europapolitiker aller Couleur, aber auch Theologen und Bischöfe in Sonntagsreden gerne seine Mahnung, dem vereinten Europa eine Seele zu geben. Wörtlich hatte Jacques Delors gefordert, Europa „eine Seele, eine Spiritualität, eine Bedeutung zu verschaffen“. Er ahnte wohl, dass die Europäische Union als rein technokratisches Konstrukt zu schwach sein würde, um den nationalistischen und egoistischen Zentrifugalkräften standzuhalten.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.