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Europa wagt mehr Balkan

Die Europäische Union gewährt Bosnien-Herzegowina endlich eine Beitrittsperspektive, wenngleich nur sehr langfristig.
Westbalkankonferenz im Bundeskanzleramt
Foto: IMAGO/Christian Spicker (www.imago-images.de) | Die Angst der gutsituierten Europäer vor den balkanischen Wirrnissen war schon immer groß. Im Bild: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Zoran Tegeltija, Ministerpräsident von Bosnien und Herzegowina.

Jetzt endlich bekommt Bosnien-Herzegowina eine Perspektive, irgendwann einmal der Europäischen Union beitreten zu dürfen. Volle 30 Jahre nach dem Zerfall Jugoslawiens und der völkerrechtlichen Anerkennung Bosnien-Herzegowinas als Staat, 27 Jahre nach dem Ende des Krieges, der hier tatsächlich (nicht nur, aber auch) ein Bürgerkrieg war, gaben die 27 EU-Staaten grünes Licht für das multiethnische und multikonfessionelle Balkanland.

Die Angst der gutsituierten Europäer vor den balkanischen Wirrnissen war schon immer groß. Selbst für das mitteleuropäisch-mediterrane Kroatien baute Brüssel viele Extra-Hürden, bevor 2013 der EU-Beitritt endlich vollzogen wurde. Der Raum zwischen Kroatiens Südgrenze und Griechenlands Nordgrenze war für die meisten EU-Entscheidungsträger stets „Terra incognita“: Völker, deren Sprachen und Emotionen, Mythen und Mentalitäten, Geschichte und Sehnsucht man nur oberflächlich verstand, falls man sie überhaupt verstehen wollte.

Die EU muss fremde Mächte zurückdrängen

Die kleinen Dramen, die sich seit Jahrzehnten auf dem Balkan abspielen, meinte man ignorieren oder mitunter auch moderieren zu können. Bis das große Drama in der Ukraine offenbarte, dass es in der Macht- und Geopolitik kein Vakuum gibt. Auch auf dem Balkan gilt: Wenn die Europäische Union die Politik und Rechtsordnung nicht prägt, dann tun das andere. Vor allem Russland, China und die Türkei sind hier überaus aktiv, teilweise auch Saudi-Arabien und der Iran. Das ist brandgefährlich – nicht nur für die Völker und Staaten Südosteuropas, sondern für ganz Europa.

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Die EU muss hier also Präsenz zeigen, den Einfluss außereuropäischer Mächte zurückdrängen und die fragilen Rechtsstaaten stabilisieren. In Bosnien-Herzegowina wird das besonders schwer, weil zu viele Kräfte – allen voran Serben-Führer Dodik – weder an Rechtsstaatlichkeit noch an der Funktionsfähigkeit des Staates interessiert sind. Die Hauptleidtragenden sind hier übrigens die katholischen Kroaten, die als kleinste und schwächste Volksgruppe des Landes stark unter Druck stehen: In einem Landesteil (der Republika Srpska) wurden sie während des Kriegs fast vollständig vertrieben und die Verbliebenen werden diskriminiert; im anderen Landesteil (der Föderation) dominiert die muslimische Mehrheit.

Die EU-Perspektive sollte der Startschuss für mehr Rechtsstaatlichkeit und Stabilisierung sein. Klar ist aber allen Beteiligten, dass es eine langfristige Perspektive ist. Bosnien-Herzegowina wird selbst im glücklichsten Fall erst in Jahrzehnten EU-Mitglied sein. Viele Einwohner des Landes werden diese Geduld nicht aufbringen, sondern sich viel schneller individuell in die EU aufmachen.

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Stephan Baier Bürgerkriege Völkerrecht

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