In einer Sondersitzung hat die Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung des Freistaats Sachen (KVS) ihren Vorstandsvorsitzenden, Klaus Heckemann, am Mittwochabend (4.9.) mit sofortiger Wirkung seines Amtes entbunden. Wie der Vorsitzende der Vertreterversammlung, Stefan Windau, im Anschluss an die Sondersitzung mitteilte, hätten 28 der 37 Anwesenden in geheimer Abstimmung für einen entsprechenden Antrag gestimmt. Zuvor sei auch Heckemann gehört worden. Bis zur Wahl eines neuen Vorstandsvorsitzenden werde die stellvertretende Vorstandsvorsitzende, Sylvia Krug, die KVS führen. Laut Windau sei ein „Neuanfang unumgänglich. Die KV Sachsen hat in den vergangenen Tagen bundesweit breit angelegte Kritik auf sich gezogen, die der Hauptausschuss ebenso wie viele KVS-Mitglieder teilen.“
Zuvor hatten Behinderten- und Fachverbände Heckemann zum Rücktritt aufgefordert respektive seine Abberufung gefordert. Grund ist ein Editorial Heckemanns in der Mitgliederzeitschrift der KVS. Darin schreibt der Facharzt für Allgemeinmedizin, die in der Vergangenheit erlangten Fortschritte der genetischen Diagnostik sorgten dafür, dass „für immer mehr schwere erbliche Krankheiten … die zugrundeliegenden Mutationen“ entdeckt würden. Damit steige die Zahl der erforderlichen humangenetischen Untersuchungen „dramatisch an“. Es sei zu befürchten, dass dieser Anstieg „neben den immensen Kosten der modernen Gentherapeutika“ die gesetzliche Krankenversicherung „finanziell“ überfordere. Deshalb müsse „unbedingt eingefordert werden, dass eine sehr strenge Indikationsstellung“ erfolge und „Ärzte, die humangenetische Untersuchungen“ vornähmen, „in Mitverantwortung genommen werden“. „Nicht immer“ gehe „der Untersuchung eine genetische Beratung voraus und nicht jeder Zuweiser“ sei „in der Lage, das Erfordernis der humangenetischen Untersuchung und die ausgelösten Kosten ausreichend einschätzen zu können.“ Um die Kosten der Mutationssuche weiter „drastisch zu optimieren“, entwirft Heckemann in seinem Editorial sodann eine „Zukunftsvision“.
Genickbruch: „Eugenik in ihrem besten und humansten Sinne“
Und die sieht so aus: „Allen Frauen mit Kinderwunsch wird eine komplette Mutationssuche nach allen autosomal-rezessiven vererbbaren schweren Erkrankungen angeboten.“ Werde dabei eine solche Mutation festgestellt, „erfolgt auch die Untersuchung des potentiellen Vaters“. „Im Falle eines Matches“ (Anm.d.A.: heißt hier: beide potenziellen Eltern sind Träger der Mutation) ließen sich „mittels In-vitro-Fertilisation und Präimplantationsdiagnostik das (25 Prozent betragende) Risiko der Geburt eines schwerkranken Kindes ausschließen“. „Selbst bei 100-prozentiger Inanspruchnahme dieses Angebots“ entstünden in Deutschland dabei jährlich Gesamtkosten „von nur etwa 750 Millionen Euro“. Laut dem Vorstandsvorsitzenden der KVS wäre „die Nutzung einer solchen Chance“ „natürlich zweifellos Eugenik. Allerdings in ihrem besten und humansten Sinn.“
Die ACHSE halte eine solch „breit angelegte Mutationssuche für falsch.“ Wie Wehr und Mundlos schreiben, würden Mutationen dabei nicht „in Ausnahmenfällen, sondern regelhaft gefunden werden, weil jeder Mensch solche, klinisch unauffällige Anlagen für schwere rezessive Erbkrankheiten in sich trägt“. Bei Betroffenen würde dies „eine große Verunsicherung“ auslösen, woraus „ein enormer Beratungsbedarf und Kosten“ resultierten. Zudem bliebe „die Frage, wie eine ,schwere‘ Erkrankung zu definieren“ wäre, „ungelöst“. Die „immensen Kosten der vorgeschlagenen In-Vitro-Fertilisation und Präimplantationsdiagnostik (PID)“ würden „genauso wenig diskutiert, wie deren fragliche Erfolgsrate und die damit einhergehenden leidvollen psychischen Belastungen für die Eltern.“ Und weiter: „Was uns jenseits dieser kolossalen Fehleinschätzung aber besonders betroffen macht, ist die Vision Ihres Vorsitzenden, dass die breite Anwendung der genetischen Diagnostik „Eugenik in ihrem besten und humansten Sinn“ sei. Dieser Begriff stammt aus der pseudowissenschaftlichen Rhetorik des letzten und vorletzten Jahrhunderts und hat in einer modernen Medizin nichts zu suchen“, heißt es im dem ACHSE-Schreiben.
Landesärztekammer: Grenze überschritten
Die Sächsische Landesärztekammer distanzierte sich von den Aussagen Heckemanns: „Unabhängig vom grundgesetzlich geschützten Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 I GG) existiert auch das Recht eines jeden auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II GG). Dabei dürfen die vorgenommenen Kostenkalkulationen keine Rolle spielen, ja muten in diesem Zusammenhang geradezu zynisch an, zumal solche Berechnungen nicht zu den Aufgaben des KV-Vorsitzenden gehören“, heißt es in einer Pressemitteilung der Kammer. „Den Begriff der ,Eugenik‘, also die Lehre der vermeintlich guten Erbanlagen, in der heutigen Zeit ausdrücklich ins Spiel zu bringen“, überschreite „eine Grenze und dient nicht dem nachvollziehbaren Anliegen, zu bestimmten Themen eine breite gesellschaftliche Diskussionen anzustoßen. Die Ausführungen wecken automatisch Erinnerungen an die deutsche Vergangenheit und sind mit dem ärztlichen Ethos unvereinbar“, so die Ärztekammer weiter.
Zuvor hatten sich das Uniklinikum und die medizinische Fakultät der Technischen Universität Dresden in einem gemeinsamen Schreiben an Sachsens Sozialministerin Petra Köpping (SPD) gewandt. Darin heißt es: „Die Verfasser dieser Stellungnahme sind Ärztinnen und Ärzte der Dresdner Hochschulmedizin. Viele von uns behandeln Kinder und Jugendliche, aber auch Erwachsene mit chronischen, genetischen und seltenen Erkrankungen, betreuen Eltern während der Schwangerschaft und Geburt und beraten, behandeln und begleiten sie im Zusammenhang mit der Familienplanung. Wir verurteilen die öffentlichen Äußerungen des Vorsitzenden der KVS zu dem, was er selbst zynisch als ,Eugenik in ihrem besten und humansten Sinn‘ bezeichnet. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde dieser Begriff für Maßnahmen zur Rassenhygiene verwendet, um ,lebensunwertes Leben‘ zu reduzieren oder zu eliminieren. Aussagen, die diese Begrifflichkeiten aufgreifen, diskreditieren nicht nur den Autor selbst, sondern schaden der Kassenärztlichen Vereinigung, den dort organisierten Ärztinnen und Ärzten, der Ärzteschaft insgesamt und nicht zuletzt dem Freistaat Sachsen.“
Resolution verabschiedet
Die Flut der Empörung brandete bis an den Spreebogen. Dort hielt der CDU-Bundestagsabgeordnete Hubert Hüppe Heckemann in einem Schreiben an die KVS eine „defizitorientierte Sicht auf genetische Erkrankung und Behinderung“ vor. Er gehe davon aus, dass die KVS „als Verursacherin nun auch der erforderlichen Debatte in ihren KVS-Mitteilungen den nötigen Raum geben“ werde.
Wie die KVS gestern weiter mitteilte, verabschiedeten die Mitglieder der Vertreterversammlung auf der Sondersitzung zudem „einstimmig“ eine Resolution, in der sie sich „uneingeschränkt“ zu den „Werten unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ und des „Grundgesetzes“ bekannten. In der Resolution heißt es unter anderem: „Unser Wirken basiert auf Humanität und Gleichbehandlung, empathisch und mit dem Respekt vor den Bedürfnissen anderer. Unsere Hausärzte, Fachärzte und Psychotherapeuten üben ihren Beruf nach ihrem Gewissen, den Geboten der ärztlichen Ethik und der Menschlichkeit aus. Ihre Interessen vertreten wir verantwortungsvoll, im gegenseitigen Vertrauen sowie im Sinne unserer gemeinschaftlichen Ziele und einer respektvollen Gesellschaft. Im Bewusstsein, dass wir in unserem Land eine besondere historische Verantwortung haben, treten wir Rassismus, Diskriminierung und einer Verharmlosung der Verbrechen des Nationalsozialismus entschieden entgegen.“
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