In der deutschen Debatte um die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs, aber auch in vergleichbaren Debatten in anderen Ländern, wird immer wieder die Behauptung kolportiert, es gäbe ein „Menschenrecht“ auf einen „selbstbestimmten Abbruch einer Schwangerschaft“. Selbstverständlich gibt es mehr als einen Weg, diese These zu prüfen. Aber einer von ihnen besteht darin, zunächst sämtliche der in ihr enthaltenen Begriffe zu klären. Wer sich dabei von hinten nach vorne arbeiten, wird zunächst fragen, was es eigentlich bedeutet, wenn von „Menschenrechten“ die Rede ist. Denn dass es derer mehrere geben muss, zeigt der dem Begriff „Menschenrecht“ vorangestellte unbestimmte Artikel „ein“ bereits an. Der selbstbestimmte Abbruch einer Schwangerschaft kann folglich nicht das einzige Menschenrecht sein.
Die wohl bekannteste Sammlung von „Menschenrechten“ findet sich in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ (AEMR) der 1945 gegründeten Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948. Sie besteht aus 30 Artikeln und einer vorangestellten Präambel. In den Artikeln 1 bis 28 werden verschiedene Menschenrechte postuliert und näher bestimmt. Artikel 29 behandelt „Grundpflichten und Einschränkungen“. Artikel 30 enthält eine „Auslegungsvorschrift“. Einige Artikel deklamieren gleich mehrere Menschenrechte. Artikel 3 behauptet etwa: „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“ Artikel 18 lautet: „Jeder Mensch hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit.“
In früheren Sammlungen nicht enthalten
Ein „Menschenrecht auf einen selbstbestimmten Abbruch einer Schwangerschaft“ findet sich hier nicht. Das kann, muss aber nicht beunruhigen. Denn erstens ist die AEMR nicht die einzige Sammlung von Menschenrechten. Und zweitens stammt sie aus dem Jahre 1948. Das ist jetzt 75 Jahre her. Da wir Heutigen allen Grund zu der Annahme haben, dass wir längst nicht alles wissen, können wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehmen, dass dies 1948 auch nicht anders war.
Wir könnten daher jüngere Sammlungen von Menschenrechten überprüfen und schauen, ob wir dort fündig werden. Infrage käme hier zum Beispiel die „Europäische Menschenrechtskonvention“ (EMRK) aus dem Jahr 1950. Weitere Kandidaten wären die „Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker“ aus dem Jahr 1981 oder auch die „Arabische Charta der Menschenrechte“ von 2004. Und auch mit ihnen wäre das Ende der Fahnenstange noch nicht einmal erreicht. Wenn wir auch dort überall nicht fündig werden – und Spoiler: das werden wir nicht –, haben wir das Problem allerdings noch nicht gelöst, sondern nur verlagert. Eine gute Möglichkeit tatsächlich weiterzukommen besteht deshalb darin, zu fragen, was all den gefundenen „Menschenrechten“ gemeinsam ist, und dann zu schauen, ob dies auch für den selbstbestimmten Abbruch einer Schwangerschaft – Begriffe, die wir noch klären müssen – zutrifft.
Rechte, die allen zukommen
Ein Hinweis auf das, was allen Menschenrechten gemeinsam ist, findet sich beispielsweise in der Präambel, die der AEMR vorangestellt wurde: Dort heißt es zu Beginn „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte“ bildeten „die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“. Die Behauptung, es gäbe Rechte, die „allen Mitgliedern der menschlichen Familie“ in gleicher Weise, also unterschiedslos, zukommen, bedeutet, dass diese Rechte weder erworben müssen noch erworben werden können. „Unveräußerlich“ meint, dass sie weder abgetreten noch verkauft werden können. Menschenrechte werden offenbar – anders als beispielsweise Privilegien – nicht verliehen, sondern können nur „anerkannt“ werden. Oft spricht man daher auch von „vorstaatlichen Rechten“. Wir lernen: Menschenrechte sind also Rechte, die Menschen allein aufgrund ihres Menschseins besitzen. Halten wir daher als Zwischenbefund fest: Wenn der selbstbestimmte Abbruch einer Schwangerschaft ein Menschenrecht ist, käme er „allen Mitgliedern der menschlichen Familie“ in gleicher und unveräußerlicher Weise zu und müsste zusammen mit den anderen Menschenrechten „die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ bilden können.
Um zweifelsfrei klären zu können, ob dies der Fall ist, scheint es sinnvoll zu sein, zunächst die übrig gebliebenen Begriffe zu klären. Da wäre zunächst der Begriff „Schwangerschaft“. Bis auf Babys und Kleinkinder weiß jeder, was damit gemeint ist. „Schwangerschaft“ meint den Zustand, in dem sich eine schwangere Frau befindet. Er erstreckt sich in der Regel über neun Monate und endet üblicherweise mit der Geburt eines Kindes. Anders als die „Fehlgeburt“ meint der „Abbruch einer Schwangerschaft“ die aktive Beendigung dieses Zustands. Ziel eines jeden Schwangerschaftsabbruchs ist es also, zu verhindern, dass ein Kind geboren wird. Ein „selbstbestimmter Abbruch der Schwangerschaft“ meint also, dass die Geburt des Kindes auf Wunsch der Schwangeren unterbleibt, statt auf Geheiß einer anderen Person. Erfolgreich ist ein „selbstbestimmter Abbruch der Schwangerschaft“ nur dann, wenn das Kind dabei zu Tode kommt. Folglich meint der „Abbruch einer Schwangerschaft“ nichts anderes als die erfolgreiche vorgeburtliche Tötung eines Kindes.
Einige Besonderheiten
Wenn also der „selbstbestimmte Abbruch einer Schwangerschaft“ ein Menschenrecht ist, so bedeutet das, dass Menschen das von niemandem verliehene, vorstaatliche Recht besitzen, die Tötung eines Kindes vor seiner Geburt zu verlangen. Natürlich nicht eines jeden Kindes, sondern nur des eigenen. Wenn wir nun dieses vermeintliche Menschenrecht mit allen anderen Menschenrechten vergleichen und fragen, was sie gemeinsam haben, dann stechen vor allem Dingen zwei Besonderheiten hervor. Erstens: Das Menschenrecht „auf einen selbstbestimmten Abbruch der Schwangerschaft“ erstreckt sich überhaupt nicht auf alle Menschen, sondern lediglich auf Frauen. Es wäre folglich das einzige Menschenrecht, das Menschen nicht aufgrund ihres Menschseins zukäme, sondern eines, das ausschließlich Frauen aufgrund ihres Frauseins zukäme. Zweitens: Das Menschenrecht „auf einen selbstbestimmten Abbruch der Schwangerschaft“ wäre zudem das einzige Menschenrecht, das sich auf das Leben eines anderen Menschen erstreckt. Auch das ist bei keinem anderen Menschenrecht der Fall. Alle anderen Menschenrechte erstrecken sich nur auf das eigene Leben.
Doch damit ist das Ende der Besonderheiten noch nicht erreicht. Wenn wir weiter darüber nachdenken, ob der „selbstbestimmte Abbruch einer Schwangerschaft“ trotz dieser auffälligen Unterschiede nicht doch ein Menschenrecht sein könnte, fällt noch etwas anderes auf. Es stünde nämlich als einziges Menschenrecht in direktem Widerspruch zu einem anderen. Denn ein Menschenrecht auf einen „selbstbestimmten Abbruch einer Schwangerschaft“ muss notwendig mit Artikel 3 der AEMR kollidieren, welcher lautet: „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“ Die einzige Möglichkeit, diese Kollision zu vermeiden, besteht darin, zu behaupten, ein ungeborenes Kind sei kein Mensch. Eine solche Behauptung steht aber im Widerspruch zu den Erkenntnissen der Medizin, genauer der Embryologie, denenzufolge sich der Mensch nicht zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt.
Ad absurdum
Skeptiker könnten hier vielleicht einwenden wollen: Der Satz „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“, zeige an, dass er nur Menschen inkludiere, die zugleich Person seien. Und genau so ist es. Mit der Pointe: Wer Mensch ist, ist auch Person. Denn nur Personen haben die Möglichkeit, Fähigkeiten auszubilden, qua derer wir sie als Personen identifizieren. Es mag Personen geben, die keine Menschen sind. Gott, Engel, unter Umständen auch Tiere, wie Delfine zum Beispiel. Aber: Es gibt keine Menschen, die keine Personen sind, wie der synonyme Gebrauch von „Mensch“ und „Person“ hier deutlich anzeigt: „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“
Akzeptieren wir dies, kann es, wenn es ein Menschenrecht auf einen selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch gibt, kein Menschenrecht auf „Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“ geben. Noch gravierender wäre: Wenn es kein Menschenrecht auf Leben gibt, gibt es überhaupt keine Menschenrechte. Denn Rechte haben kann nur derjenige, der lebt. Das Menschenrecht auf „Leben“ ist also nicht irgendein Menschenrecht. Es ist das erste und vornehmste, da nur seine Anerkennung die Anerkennung weiterer Menschenrechte möglich macht. Und weil das so ist, kommt noch eine weitere Besonderheit hinzu: In Anschlag bringen könnten das „Menschenrecht“ auf einen „selbstbestimmten Abbruch der Schwangerschaft“ nur diejenigen, die ihre Existenz dem Umstand verdanken, dass vor ihrer Geburt von diesem Menschenrecht kein Gebrauch gemacht wurde. Auch das gibt es bei keinem anderen Menschenrecht.
Zwar kann jemand darauf verzichten, von einem Menschenrecht, etwa dem auf Religionsfreiheit oder dem der Meinungsfreiheit Gebrauch zu machen, indem er keine Religion ausübt oder seine Ansichten und Meinungen für sich behält oder zumindest nicht öffentlich äußert. Die Inanspruchnahme eines Menschenrechts sagt also nichts über sein tatsächliches Vorhandensein aus. Aber: Alle, die von einem Menschenrecht Gebrauch machen, können dies tun, ohne dass dafür zuvor ein anderer auf den Gebrauch dieses Recht verzichten müsste.
Wir sehen also: Statt Gemeinsamkeiten mit anderen Menschenrechten weist der „selbstbestimmte Abbruch einer Schwangerschaft“ eine ganze Reihe eklatanter Unterschiede zu allen anderen Menschenrechten auf. Mehr noch: Einige von ihnen würden den Menschrechtsgedanken selbst ad absurdum führen. Ergo kann der „selbstbestimmte Abbruch einer Schwangerschaft“ unmöglich ein Menschenrecht sein. Wer Gegenteiliges behauptet, hat diese These offenbar einfach nicht zu Ende gedacht.
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