Bei den einen sorgt er für Kopfschütteln, andere wiederum fühlen sich in ihrer Auffassung bestätigt: Der Vorschlag der EU-Kommission, Atomkraft und Erdgas als nachhaltig einzustufen und die betreffenden Kraftwerke unter bestimmten Bedingungen als „grüne“ Investitionen zu klassifizieren, sorgt in der Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP für Misstöne.
Dies zeigte sich bereits an den ersten Reaktionen „im Namen“ der Regierung, die allesamt uneinheitlich ausfielen. Denn während ein Sprecher der Bundesregierung die Pläne aus Brüssel begrüßte, kam von Bundesministern der Grünen wie Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck oder Umweltministerin Steffi Lemke umgehend massive Kritik.
Deutschland kann EU-Vorstoß alleine nicht blockieren
Die Umweltministerin kündigte am Montag gegenüber der „Rheinischen Post“ gar eine „schnelle“ – und damit voraussichtlich ablehnende – Reaktion der Bundesregierung auf von der EU-Kommission getroffene Entscheidung an. Doch ob es zu dieser von Lemke intendierten Reaktion kommt und eine solche auf EU-Ebene dann nachhaltigen Eindruck hinterlassen wird, muss abgewartet werden. Da müsste Berlin wohl schon schwerere Geschütze auffahren und sich zudem ernsthaft darum bemühen, den Beschluss der Kommission rückgängig zu machen.
Doch Deutschland bräuchte für eine Blockade der EU-Verordnung eine Mehrheit unter den 27 Mitgliedstaaten, die derzeit nicht absehbar ist. Zudem hätte ein Veto Berlins gegen die Klassifizierung der Atomkraft als nachhaltig eine massive Verstimmung mit Frankreich zur Folge, das sich maßgeblich für die Einstufung der Kernenergie als klimaschonend eingesetzt hat, da ein Großteil des einheimischen Stroms via Atomkraft erzeugt wird. Die Franzosen haben außerdem bereits im Vorfeld der Kommissionsentscheidung ihre strategischen Hausaufgaben gemacht und sich mit Polen und weiteren östlichen Ländern Verbündete ins Boot geholt, die mit Atomstrom ihre Klimabilanz verbessern wollen. Berlin jedoch – sowohl die alte als auch die neue Bundesregierung – unterließ jegliche Form der Partnersuche unter den Mitgliedsstaaten, um die eigene Position zu stärken.
Der Atomausstieg: Ein Erbe von Rot-Grün und Schwarz-Gelb
Die Bundesregierung wird sich vermutlich als Reaktion auf die Brüsseler Entscheidung in Pragmatismus ergehen: Einerseits moralinsauer die Backen aufblasen und die eigene Politik vor allem gegenüber dem einheimischen Publikum rechtfertigen, andererseits die EU-Vorgaben aber weitestgehend akzeptieren. Dass es jedoch, wie von manchen erhofft, zu einem erneuten Aufschnüren des spezifisch deutschen Energiewende-Pakets kommt, dürfte trotz der neuen Großwetterlage aus Brüssel nicht eintreten: Denn schließlich wurde der Atomausstieg nicht nur von Gerhard Schröders rot-grüner Koalition, sondern auch von Angela Merkels damaliger schwarz-gelber Koalition auf den Weg gebracht. Allesamt Parteien, die bis vor kurzem regiert haben beziehungsweise seit neuem wieder regieren.
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