In den sozialen Medien macht im Moment ein Bild die Runde. Zu sehen ist Thilo Sarrazin, der mit verschränken Armen den Betrachter selbstbewusst anblickt. Daneben steht: „Wenn all deine Prognosen nun nonstop in der Tagesschau laufen.“ Die Botschaft der Verbreiter ist eindeutig: Thilo Sarrazin hat Recht gehabt. „Deutschland schafft sich ab“ – mit seiner Grundthese hat sich der ehemalige Berliner Finanzsenator, der mit seiner vernichtenden Kritik an der deutschen Einwanderungspolitik von heute auf morgen zur Persona non grata des Politikbetriebes, ja sogar aus der SPD geworfen wurde, für seine Fans als Prophet erwiesen.
Und in der Tat, das können auch Kritiker des gerne scharf und zugespitzt formulierenden Sarrazin nicht leugnen, er war einer der ersten aus dem Zentrum der deutschen Politik, der laut und deutlich vor den Folgen einer islamischen Parallelgesellschaft gewarnt hat. Doch der Mahner in der Politik-Wüste wurde nicht zum Vordenker, Sarrazin ist ein Ausgestoßener. Er schreibt Bestseller um Bestseller, im Politik-Betrieb bekommt er aber kein Bein mehr auf den Boden. Daran wird auch die vermeintliche Renaissance seiner Thesen in der aktuellen Lage nichts ändern.
Thilo Sarrazin ist ein klassischer Sozialdemokrat
Wie kommt das? Ein anderes Beispiel dieser Tage beweist nämlich, dass die deutsche Öffentlichkeit durchaus bereit ist, auch gescheiterten Politikern eine zweite Chance zu geben. Robert Habeck, im Hauptberuf Bundeswirtschaftsminister und wegen dem von ihm verantworteten Energie-Desaster über Wochen der Minus-Mann der Ampel, hat durch eine staatstragende Rede zur Solidarität mit Israel und gegen Antisemitismus plötzlich die Schallschwelle der Beliebtheit durchbrochen. Schon wird er von manchen als „Kanzler der Herzen“ verkauft.

Der Vergleich zwischen Sarrazin und Habeck zeigt an, was sich im linken Spektrum getan hat. Man darf schließlich nicht vergessen, Thilo Sarrazin ist, auch wenn seine Fans sich heute rechts verorten, ein Linker. Ja, in gewisser Weise sogar ein klassischer Sozialdemokrat. Materialist, Technokrat und Empirie-hörig. Sarrazin orientiert sich an dem was zählbar, was messbar ist. Er glaubt, dass das, was einen Menschen ausmacht, sich in Statistiken aufschlüsseln ließe; so argumentiert er auch in seinen Büchern. „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ – den alten marxistischen Grundsatz könnte Sarrazin ohne Zögern unterschreiben.
Robert Habeck setzt auf das Bewusstsein
Ganz anders Habeck. Der promovierte Philosoph setzt auf das Bewusstsein. Er ist, wenn man so will, zum Aushängeschild der Bewusstseinslinken in Deutschland geworden. Deswegen reüssiert er rhetorisch immer dann, wenn es genau darum geht, auf dieser Ebene sein Publikum anzusprechen. Dann geht es um die richtige Haltung, nicht um Schlussfolgerungen aus kalten statistischen Fakten wie bei Sarrazin.
Mit dieser Wellness-Politik kann sich Habeck im bürgerlichen Milieu immer wieder neu als Staatsmann mit dem Charme des Lieblingsschwiegersohns stilisieren, Sarrazin bleibt der Häuptling der „angry white man“. Ob sich das irgendwann ändert?
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