Eine deutliche Mehrheit von 62 Prozent der Chilenen hat sich gegen den von einer verfassungsgebenden Versammlung vorgelegten progressiven Verfassungsentwurf ausgesprochen. Dies gilt auch als eine Niederlage des seit März regierenden linken Präsidenten des Landes, des 36-jährigen Gabriel Boric.
Bei Massenprotesten 2019 wurde die Forderung nach einer neuen Verfassung laut, die das 1980 unter Augusto Pinochet in Kraft getretene Grundgesetz ablösen sollte. Im Oktober 2020 stimmten fast 80 Prozent der Chilenen in einem Volksentscheid mit „Ja“. Eine Verfassunggebende Versammlung mit etwa 155 Teilnehmern wurde gewählt. Sie war paritätisch besetzt mit gleich vielen Männern und Frauen und mit reservierten Sitzen für indigene Gruppen.
"Wokes Grundgesetz"
Der 178 Seiten, 388 Artikel und 54 Übergangsvorschriften umfassende Verfassungsentwurf sollte besonders „progressiv“ sein. Das Magazin „Der Spiegel“ nannte es „ein wokes Grundgesetz“. Darin wurde Chile als eine „paritätische Demokratie“ definiert, in der Frauen mindestens 50 Prozent aller staatlichen Gremien besetzen sollen. In einer radikalen und umstrittenen Wendung zur geltenden Verfassung sollte das südamerikanische Land als ein „plurinationaler und interkultureller Staat“ mit elf indigenen „Völkern und Nationen“ definiert werden.
Im Gegensatz zur geltenden Verfassung spricht der vorgelegte Entwurf nicht vom „Schutz des ungeborenen Lebens“ – auch wenn der Satz nicht die seit 2017 geltende Straffreiheit der Abtreibung verhindern konnte, mit der Begründung, dass eine strafrechtliche Verfolgung kein „angemessener Mechanismus zum Schutz des Ungeborenen“ sei. Im nun abgelehnten Verfassungsentwurf sollte „die freie, selbstbestimmte und diskriminierungsfreie Ausübung der sexuellen und reproduktiven Rechte“ anerkennt werden. Der Staat sollte die Bedingungen für eine „freiwillige und geschützte Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft sowie für einen freiwilligen Schwangerschaftsabbruch“ gewährleisten. Dies bedeutet zwar nicht ein Recht auf Abtreibung, denn der Gesetzgeber sollte die Einzelheiten festlegen. Dass aber dadurch Abtreibungen erleichtert werden sollten, bezweifelt niemand.
Ebenso können die zweideutigen Formulierungen „Jeder hat das Recht auf einen würdigen Tod“ und „die Verfassung garantiert das Recht der Menschen, frei und in Kenntnis der Sachlage über ihre Versorgung und Behandlung am Lebensende zu entscheiden“ als Tor und Tür für aktive Sterbehilfe interpretiert werden.
Im Bereich Sexualität und Familie schlägt sich der von der LGBTQ-Lobby beeinflusste, vorherrschende Zeitgeist deutlich nieder: „Alle Frauen, Mädchen, Jugendlichen und Menschen mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt und Dissidenz haben das Recht auf ein Leben frei von geschlechtsspezifischer Gewalt in all ihren Erscheinungsformen, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich“. Die Formulierung „geschlechtliche Vielfalt und Dissidenz“ zieht sich als roter Faden durch den gesamten Verfassungsentwurf. So heißt es beispielsweise: „Das Gesetz stellt die Mittel zur Verfügung, um die Teilnahme von Personen mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt und Dissidenz an Wahlprozessen zu fördern.“
Ablehnung schallende Ohrfeige für den Präsidenten
Zur Ablehnung des Entwurfs äußerte sich Chiles Präsident Gabriel Boric über die seine Twitter-Account: „Heute hat das chilenische Volk gesprochen, und zwar laut und deutlich. Es hat uns zwei Botschaften übermittelt. Zunächst sollte klar sein, dass Chilenen ihre Demokratie lieben und schätzen, dass sie darauf vertrauen, dass sie Unterschiede überwinden und vorankommen kann. Die zweite Botschaft des chilenischen Volkes ist, dass es mit dem von der verfassungsgebenden Versammlung vorgelegten Verfassungsentwurf nicht zufrieden war und daher beschlossen hat, ihn an der Wahlurne klar abzulehnen. Diese Entscheidung des chilenischen Volkes verlangt von unseren Institutionen und politischen Akteuren mehr Einsatz, mehr Dialog, mehr Respekt und Zuneigung, um zu einem Vorschlag zu gelangen, der uns alle versteht, der uns Vertrauen gibt, der uns als Land vereint.“
Obwohl die mehr als deutliche Ablehnung als „schallende Ohrfeige“ für Gabriel Boric angesehen wird, hat damit der Präsident angekündigt, dass der verfassungsgebende Prozess wieder beginnen soll. DT/jga
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