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Das Besondere dieses einen Lebens

Hanns-Josef Ortheil ist ein Meister des autobiografischen Schreibens. In seinem neuen Roman erzählt er, wie ein verschlossener Junge aus seiner Einsamkeit herausfindet.
Wuppertaler Schwebebahn über der Wupper.
Foto: blickwinkel S. Ziese (imago stock&people) | Die Wuppertaler Schwebebahn über dem Flussbett der Wupper.

Bei jedem neuen Roman von Hanns-Josef Ortheil stellt sich die Frage, welche möglicherweise noch unbekannten Aspekte seines reichen Lebens der außerordentlich produktive Schriftsteller seinen Lesern wohl dieses Mal entdecken wird. Vieles hat der fast 74-Jährige geschrieben: Romane, Erzählungen, Reiseerlebnisse, Essays und Reportagen. Immer verarbeitet Ortheil seine Lebenserfahrungen von Kindheit an, spürt den verschlungenen Wegen seiner Biografie nach und vermittelt das Wiedergefundene literarisch so plastisch, dass beim Lesen das Besondere dieses einen Lebens in der eigenen Seele widerklingt. Und das ist wörtlich zu nehmen. Hanns-Josef Ortheil, der Pianist werden wollte und diese Laufbahn wegen ständig wiederkehrender Sehnenscheidenentzündungen aufgeben musste, schreibt „musikalisch“, seine Texte sind in Sprache umgesetzte Kompositionen.

So auch in „Schwebebahnen“, dem aktuellen Roman, der tatsächlich in der durch ihre Schwebebahn berühmten Stadt spielt. 1957 zieht der 6-jährige Josef mit seinen Eltern von Köln nach Wuppertal. Der Vater, Eisenbahner im höheren Dienst, hat sich versetzen lassen, damit der hochgradig introvertierte Junge einen neuen Anlauf mit der Schule nehmen kann, die er in Köln in der ersten Klasse abbrechen musste, weil er weder mit dem Lernstoff noch mit den Mitschülern zurechtkam. Am liebsten möchte er nur Klavier spielen und schreiben – das sowie das Lesen beherrscht er schon, der Vater hat es ihm beigebracht. Freunde meint er nicht zu brauchen, Josef ist lieber allein, er kennt und will es nicht anders.

Das allerdings ändert sich schon am Tag des Einzugs in die neue Wohnung: Vom Fenster gegenüber winkt ihm ein Mädchen zu. Zunächst ist Josef verschreckt und skeptisch, doch die ein Jahr ältere Rosa, genannt Mücke, deren Leben auch kein gewöhnliches ist, holt den Jungen aus seiner selbstgewählten Isolation. Sie nimmt ihn mit in ihre Welt und die deutsch-italienische Familie, in der es anders zugeht als bei Josef zu Hause, laut und lebendig. Mücke hat neben der Schule viele Aufgaben, sie muss im Gemüseladen der Eltern helfen, der Vater hat im Krieg ein Bein verloren und kann schwere Arbeiten nur eingeschränkt verrichten. Es entsteht eine enge Freundschaft voller Vertrauen und Offenheit zwischen den Kindern, die beide Schweres zu verarbeiten haben. Mückes Unglück erfahren wir erst im Laufe des Romans, es soll hier nicht verraten werden.

Düsterer Familienhintergrund

Hanns-Josef Ortheil hatte vier ältere Brüder, von denen zwei im Krieg und zwei direkt danach gestorben sind. Dass die Eltern an diesem tragischen Schicksal nicht zerbrochen sind, grenzt an ein Wunder und erklärt sicher das nicht der Norm entsprechende Verhalten des hochbegabten Jungen, dessen Mutter für mehrere Jahre verstummt war – und der kleine Junge mit ihr. Der Schriftsteller benennt den düsteren Familienhintergrund seines Alter Egos hier nicht. Aber dass es eine dunkle Ursache für sein zurückgezogenes Verhalten geben muss, lässt sich erahnen.

Erstaunlicherweise ist Josef bei aller Eigenart kein wirklich schüchternes Kind, er tritt durchaus selbstbewusst für seine Interessen und Vorstellungen ein und sorgt mit seinen eigenwilligen Fragen bei Lehrern und Priestern für Irritationen und Nachdenklichkeit. Mücke und Josef machen nach Möglichkeit alles gemeinsam, lernen von- und miteinander, und so gelingt dann auch in Wuppertal Josefs „Schulexperiment“. Mücke wartet sogar ein Jahr mit dem Kommunionsunterricht, damit sie auch das zusammen mit Josef erleben kann. Das Thema Gott beschäftigt die Kinder sehr, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Mücke hat einen Schutzengel namens Bianca bei sich, mit dem sie spricht und der ihr Geschenke bringt, Josef geht das Thema eher philosophisch an und stellt dem dann doch überforderten Pater so interessante Fragen wie: „Warum hat Gott eigentlich Himmel und Erde geschaffen?“

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Der Pater vom niederländischen Kreuzherrenorden fördert den Jungen, verschafft ihm einen Raum, in dem er ungestört Klavier üben kann, und bringt ihn zum Singen im gregorianischen Chor. Und er vermittelt ihm einen renommierten Klavierlehrer, der das musikalische Potenzial Josefs erkennt und ihn erst einmal dazu bringt, den eigenen Körper wahrzunehmen: „Atmen! Gehen! Singen!“ Als er dem Jungen die Anfangsklänge von Bachs „Goldberg-Variationen“ vorspielt, ist der elektrisiert und beginnt, sie aus dem Gedächtnis nachzuspielen und die „Aria“ auf seine Weise zu variieren, noch ohne das ganze Stück gehört zu haben. In einem Schallplattengeschäft darf er sich dann eine Aufnahme mit dem jungen Glenn Gould anhören, die ihn fortan begleiten wird.

Fugenhafte Variationen eines Kernthemas

Und mit dieser kleinen Episode erklärt sich die Faszination von Ortheils Texten. Es sind Fugen, Variationen, die um ein Kernthema kreisen und sich immer wieder neu zusammensetzen, wobei jeder Einzelsatz einen eigenen Charakter hat. Der Kern, Hanns-Josef Ortheils Biografie, gibt das Leitthema vor. Und dass diese neue „Ortheil-Variation“ den Titel „Schwebebahn“ trägt, hat natürlich mit der Begeisterung des Eisenbahnersohns für das Wuppertaler Fahrzeug zu tun, aber wohl auch mit einem kleinen einsamen Jungen, der aus seinem Schwebezustand herausfindet und erfährt, wohin er gehört.

Hanns-Josef Ortheil: Schwebebahnen, Luchterhand Literaturverlag München 2025, 320 Seiten, EUR 24,–


Die Rezensentin hat über 30 Jahre bei den Berliner Festspielen im Pressebüro und als Protokollchefin gearbeitet. Sie lebt als freie Kulturjournalistin in Berlin.

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Gerhild Heyder Hanns-Josef Ortheil

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