Die Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung und zahlreiche Bürgermeisterposten am Wochenende haben ein politisches Erdbeben in Chile ausgelöst. Sowohl die bürgerliche rechte Regierung als auch die Mitte-Links-Parteien, die das Land seit der Rückkehr zur Demokratie 1990 regierten, wurden von den Wählern bei niedriger Wahlbeteiligung (43 Prozent) abgestraft. Groß herausgekommen sind die radikale Linke und unabhängige Kandidaten mit einer meist progressistischen Agenda. In der 155 Sitze umfassenden verfassunggebenden Versammlung hätte die regierende bürgerlich-konservative Rechte ein Drittel der Mandate gebraucht für eine Veto-Position, aber sie kam nur auf 37 Sitze.
Linke und Kommunisten liegen vorne
Die Mitte-Links-Koalition von Christdemokraten und Sozialdemokraten erreichte nur 25 Sitze. Das war weniger als die linksradikale Allianz aus der Kommunistischen Partei (PC) und dem Frente Amplio, die 28 Sitze erobern konnte. Frente Amplio steht den Kommunisten in Kuba und Machthaber Nicolás Maduro in Venezuela nahe. Hinzu kommen noch 48 Unabhängige in Chiles Verfassungsversammlung, die überwiegend dem linken Spektrum zuzuordnen sind, sowie 17 Vertreter der Indigenen, die am meisten von PC und Frente Amplio unterstützt wurden. Aufgrund einer Paritätsregelung ist in der Versammlung 50 Prozent Frauenanteil vorgeschrieben – es mussten letztlich kurioserweise sogar elf Frauen ihre Sitze wieder abgeben.
Mehr Staat
Die Versammlung soll einen neuen Verfassungstext erarbeiten, der die bestehende Verfassung ersetzt. Diese stammt ursprünglich von 1980 aus der Zeit des Diktators General Pinochet, wurde aber seit 1990 vielfach überarbeitet. Die Hauptstoßrichtung jetzt wird sein, das marktliberale Modell durch mehr Sozialstaat und Staatseingriffe in die Wirtschaft abzulösen. Einige Linke würden am liebsten die großen Kupferminen verstaatlichen. Die Gefahr besteht, dass Investoren abgeschreckt werden. Aber auch wichtige ethische Fragen wie Abtreibung oder Sterbehilfe könnten in der neuen Verfassung im Sinne der „Progressiven“ festgeschrieben werden.
Niederlage der etablierten Parteien
Präsident Sebastián Pinera gestand die schwere Niederlage der etablierten Parteien in den Wahlen ein. Die Wähler hätten die klare Botschaft gesendet, dass die Etablierten nicht genug auf ihre Wünsche und Bedürfnisse eingingen. Ein Schock für die Bürgerlichen ist das Ergebnis in der Hauptstadt Santiago, die mehr als sieben Millionen Einwohner hat; deutlich mehr als ein Drittel der 19 Millionen Chilenen leben dort. In Santiago gewann die 30-jährige Irací Hassler von der Kommunistischen Partei die Bürgermeisterwahl. Selbst während der Volksfront von Salvador Allende (1970 bis 1973) hatten die Kommunisten in der Hauptstadt nicht die Mehrheit. Der PC war Teil der Regierungskoalition von Michelle Bachelet in den Jahren 2014 bis 2018, aber nie so stark. Zudem gewann am Wochenende der Frente Amplio in vier der größeren Städte des Landes die Bürgermeisterwahlen.
Linksverschiebung nach Sozialprotesten
Das alles weist auf eine starke Linksverschiebung hin, die im Herbst 2019 mit großen Sozialprotesten begann. Anfangs gab es Demonstrationen gegen erhöhte Fahrpreise für öffentliche Verkehrsmittel in Santiago, bald kam der Ruf nach einer neuen Verfassung auf. Obwohl Chile das wohlhabendste Land Lateinamerikas ist und vor der Pandemie eine offiziell niedrige Armutsrate hatte, richtete sich die Unzufriedenheit auf die hohe soziale Ungleichheit. Im Zuge einiger großer und teils gewalttätiger Demonstrationen wurden auch Kirchen angegriffen, in Santiago brannten zwei Gotteshäuser.
Kirche verliert Einfluss
Die katholische Kirche, die einst in Chile zu den stärksten sozialen Säulen zählte, hat in den vergangenen Jahren deutlich an Kraft und Einfluss eingebüßt. Vor gut einem Jahrzehnt erklärten noch zwei Drittel (67 Prozent) der Bevölkerung in einer großen repräsentativen Umfrage, dass sie Katholiken sind. Zehn Jahre später ist der Anteil 2019 auf 45 Prozent gesunken. Der Teil der sich als nicht-religiös oder atheistisch Bezeichnenden verdoppelte sich auf 32 Prozent. Zum verbliebenen Drittel der Bevölkerung zählen unter anderem Evangelikale. Die katholische Kirche, die lange Zeit auch politisch mächtig war und der die traditionelle politische und wirtschaftliche Elite nahesteht, gilt bei den Protestlern dadurch als diskreditiert. Auch in Chile haben zudem eine Reihe abstoßender Skandale um sexuellen Missbrauch die Kirche erschüttert. Laut einer neueren Umfrage hat nur noch jeder sechste Chilene Vertrauen in die Kirche als Institution.
Linke will Abtreibung legalisieren
Im Wahlkampf um die neue Verfassung fiel sie als Einflussfaktor fast völlig aus. Von ihr war kaum etwas zu hören, obwohl bei den möglichen Verfassungsänderungen auch Fragen berührt sind, zu denen die Kirche eine dezidierte Meinung hat, etwa Schwangerschaftsabbruch und Lebensschutz. Aktuell ist in Chile Abtreibung nur in sehr engen Grenzen möglich, nämlich bei einer Vergewaltigung oder bei Gefahr für das Leben der Mutter. Die Linke will die Abtreibung so weit wie möglich legalisieren. Auch zur Gender-Identifikation könnte die neue Verfassung Aussagen erhalten, wenn sich die Linke durchsetzt.
Die Verfassungsversammlung wird im Juli ihre Arbeit aufnehmen und dann nach neun Monaten, spätestens nach zwölf Monaten ihre Vorschläge für eine neue Verfassung vorlegen. Über diese wird es dann ein Referendum geben.
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