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Baerbock, die Frage der politischen Führung und der opportunistische Zeitgeist

Wenn die Bundesaußenministerin sagt, ihre Prinzipien seien ihr wichtiger als der Wille ihrer Wähler, dann ist das ein Zeichen von Führungsstärke.
Baerbocks Anspruch, sich nicht primär am Wähler zu orientieren
Foto: Petr David Josek (AP) | Egal ob man es mag oder nicht, Baerbocks Anspruch, sich nicht primär am Wähler zu orientieren, ist exakt, was der Wähler will: Führung.

Wohl selten wird ein Begriff so selten richtig verwendet wie der von der politischen Führung. Gewünscht wird sie bei Umfragen eigentlich immer. Die Menschen möchten, dass ein Bundeskanzler führt. Das gleiche gilt für Parteivorsitzende oder Minister. Umso erstaunlicher ist nun die große Aufregung über die Aussagen von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock zum Ukraine-Krieg. Mal unabhängig davon, ob ihr Zitat in den sozialen Medien verkürzt oder verzerrt wiedergegeben worden ist: Letztlich ist das nur ein Seitenaspekt.

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Politische Führung

In Wirklichkeit geht es um politische Führung. Denn wenn Baerbock sagt, für sie stünde die Unterstützung der Ukraine an erster Stelle, egal, was ihre deutschen Wähler dazu sagten, dann ist das nämlich genau das: Führung. Ob man nun den Inhalt ihrer Aussage teilt (für richtig hält?) oder nicht, klar ist doch jedenfalls, dass die Grünen-Politikerin hier eine Leitlinie nennt, nach der sie politisch handelt. Und sich eben nicht an wie auch immer zu bewertenden Mehrheitstrends, die gerade die Wählerschaft umtreiben, ausrichtet. Sich eben nicht führen lässt, sondern selbst führen will. Das ist letztlich nichts anderes als die Weigerung, seine Fahne nach dem Wind zu hängen.

Also das Gegenteil von Populismus. Ob das nun besonders clever ist und ob man die Prinzipien, die Baerbock hier für ihre Ukraine-Politik ausgibt, teilen will, das steht noch einmal auf einem anderen Blatt. Aber dass eine aufgescheuchte Öffentlichkeit, die sich sonst bei jeder Gelegenheit über zu opportunistische Politiker beklagt, hier nicht die Unterschiede sieht, ist wiederum ziemlich opportunistisch. Hauptsache, man kann sich aufregen.

 

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Foto: privat / dpa | Woche für Woche berichtet unser Berlinkorrespondent in seiner Kolumne über aktuelles aus der Bundeshauptstadt.

Ambivalente Personen

Das steht auch im Gegensatz zu den Elogen, die man in diesen Tagen auf zwei Politiker lesen konnte, von denen der Eine eine Figur der Weltgeschichte war, der Andere über fünf Jahrzehnte immerhin eine zentrale Gestalt der Bundesrepublik. Die Rede ist von Michail Gorbatschow und Hans-Christian Ströbele.

Beide sind, anders kann es auch gar nicht sein, höchst ambivalente Figuren. Was aber in den öffentlichen Würdigungen von Gorbatschow wie Ströbele vielfach hervorgehoben wurde: Beide standen in den wichtigen Phasen ihres Lebens gegen allgemeine Trends und folgten ihren eigenen, persönlichen Prinzipien. Bei Gorbatschow wird dies vor allem natürlich an seiner Rolle für die Deutsche Wiedervereinigung festgemacht.

Bei Ströbele, dem Inbegriff eines Alt-Linken klassischer 68er-Prägung, daran, dass er sich eben auch später, als der Zeitgeist in seiner Partei anders wehte, treu geblieben sei. Als Joschka Fischer schon längst in den Nadelstreifenanzug des Weltstaatsmannes gewechselt war, trug Ströbele immer noch seine Norweger-Pullover.

Nicht allein die Wähler

Natürlich werden auch diese Zuschreibungen diesen Persönlichkeiten (über beide könnte man viele Bücher schreiben) nicht gerecht, aber es ist eben auffällig: Das Widerständige gegen den Zeitgeist, der Mut zum eigenen Prinzip und auch eine gewisse Immunität gegenüber den Wechselkursen der öffentlichen Meinung  - die Faktoren werden in vielen Nachrufen hervorgehoben.

Das zeigt: In Deutschland ist die Sehnsucht nach Politikern offenbar groß, die sich nicht allein nach Wählertrends ausrichten und prinzipiell denken. Aber zu schätzen weiß man das wohl erst dann, wenn die Betreffenden tot sind. Das muss nun auch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock spüren. 

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