Immerhin, die deutsche Öffentlichkeit scheint einen Schritt weiter zu sein als im Februar 2020. Nur schade, dass dazu offenbar erst ein Richterspruch notwendig ist. Anders als vor zweieinhalb Jahren scheint jetzt doch vielen Beobachtern langsam klar zu werden, es war nicht korrekt wie Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrer inzwischen legendären Pressekonferenz von Südafrika aus versucht hat, in Thüringen zu intervenieren. Dass die Kanzlerin, die in diesem Statement eben als Regierungschefin und nicht als CDU-Politikerin oder gar Privatperson Angela M. sprach, ihre gebotene Neutralitätspflicht verletzt hat, musste eigentlich schon damals jedem mit Gefühl für politischen Stil klar sein.
Blamierte Ex-Kanzlerin
Nun haben wir es mit Brief und Siegel aus Karlsruhe. Doch statt Kritik erntete Merkel damals allenthalben Lob, ja wurde gar zur Retterin der Demokratie vor der blauen Bedrohung verklärt. Nun ist die Lage anders: Die Alt-Kanzlerin, die in der letzten Woche noch von ihren Fans nach ihrem Berliner Ensemble-Auftritt als politische Stil-Ikone gefeiert wurde, ist blamiert bis auf die Knochen. Blamiert ist aber vor allem die Bundesrepublik: Die ganze Causa ist ein Armutszeugnis für die politische Kultur in diesem Land. Und die traurige Pointe: Ausgerechnet ihren politischen Todfeinden von der AfD hat Merkel auf diese Weise einen Sieg auf dem Silbertablett serviert. Bei Chrupalla und Co knallen die Sektkorken. Kurz vor ihrem Bundesparteitag und angesichts des allgemeinen Abwärtstrends, den die Partei erfasst hat, kann die AfD diesen Erfolg mehr als gebrauchen.
Aber einige Unbelehrbare glauben wahrscheinlich immer noch, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Die AfD ist nun einmal der Böse. Und gegen die Bösen ist alles erlaubt. Dass diese Maxime erstens keine Grundlage für eine journalistisch saubere Berichterstattung sein kann, müsste eigentlich klar sein, aber selbst denjenigen unter den Medienvertretern, die sich das Journalisten-Mäntelchen nur umgehängt haben, um ihre eigentlich aktivistischen Ziele zu verstecken, müsste jetzt dämmern: Ihre Taktik ist kontraproduktiv. Am Ende profitiert nur einer: die AfD.
Schaden für politische Kultur
Bleibt festzuhalten: Ein schlechter Tag für die Demokratie war nicht die Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten. Ganz im Gegenteil: Denn hier haben frei gewählte Abgeordnete einfach nur das gemacht, was ihr Auftrag ist, nämlich ihr Mandat wahrgenommen. Formal alles ganz korrekt wie aus dem Lehrbuch. Ob einem das Ergebnis dieser Wahl politisch passt, tut dabei nichts zur Sache. Geschadet hat der politischen Kultur Angela Merkel. Und was noch viel schlimmer ist: Den Feinden unserer Demokratie hat sie in ihren Ressentiments gegenüber unserem System Auftrieb gegeben. Tolle Leistung, Frau M.
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