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Tigray-Konflikt: Am Horn von Afrika droht das Chaos

Der Tigray-Konflikt in Äthiopien ist neu aufgeflackert. Was bedeutet das für die Christen in Ostafrika? Alte religiöse Gegensätze zwischen Christen und Muslimen drohen aufzubrechen.
Konflikt in Äthiopien dauert bereits seit 2020 an
Foto: Uncredited (AP) | Der Konflikt dauert bereits seit 2020 an: Bewaffnete Soldaten der TPLF bewachen den Transport von gefangenen äthiopischen Regierungssoldaten im Oktober letzten Jahres durch die Stadt Mekele.

Bei uns war der Konflikt im Norden Äthiopiens fast schon vergessen. Er begann am  20 . November 2020 mit einem Massaker der Tigray-Miliz TPLF an äthiopischen Soldaten und Wanderarbeitern in der nordäthiopischen Provinz Tigray. Eine neue Phase im Tigray-Konflikt. Nun ist der Konflikt in eine neue Phase eingetreten. Am Vormittag des 24. August berichteten internationale Medien wie BBC, Reuters und die Deutsche Welle von einem heftigen neuen Aufflammen der militärischen Auseinandersetzungen seit den Morgenstunden. Von einer äthiopischen Großoffensive war einerseits die Rede, andererseits erhob die äthiopische Seite den Vorwurf, die Feindseligkeiten seien von der TPLF eröffnet worden.

Weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit hat sich der Konflikt in den letzten Monaten erneut zugespitzt – Friedensbemühungen unter Führung der Afrikanischen Union (AU), so zeigte sich im Hochsommer, würden nicht erfolgreich sein. Wiederholt äußerte sich die TPLF ablehnend gegenüber diesem Friedensprozess, den der frühere nigerianische Präsident Obasanjo im Namen der AU steuern sollte. Wenige Tage vor Ausbruch der Feindseligkeiten warf der Sprecher der TPLF, Getachew Reda, in einem Artikel  in „The Africa Report“ der AU mangelnde Glaubwürdigkeit und Realitätsferne vor; er lehne es ab, ohne Vorbedingungen in Friedensverhandlungen einzutreten. Der TPLF-Funktionär prangert an, Tigray werde von der äthiopischen Armee belagert und abgeriegelt.

Zivilisten ermordet, Städte geplündert und verwüstet

Wie diese Situation zustande gekommen war, wird freilich verschwiegen. Aus Tigray war die TPLF-Miliz in benachbarte Regionen Äthiopiens vorgestoßen, hatte zahlreiche Zivilisten ermordet, Städte geplündert und verwüstet. Ausdrücklich hatte die TPLF damit gedroht, auf die Hauptstadt Addis Abeba vorzurücken. Dass hierauf energische militärische Gegenmaßnahmen der Zentralregierung erfolgen mussten, ist eine reine Selbstverständlichkeit. Ebenfalls im Vorfeld der jüngsten Eskalation hatte der Chef der WHO, Tedros Adhanom Gebreyesus, der sich mehr und mehr zum Sprecher von TPLF-Interessen entwickelt hat, der Weltöffentlichkeit vorgeworfen, die schwierige Lage der Bevölkerung in Tigray zu ignorieren, obwohl die Vereinten Nationen bereits umfassende Hilfe nach Äthiopien auf den Weg gebracht und 840 Tonnen Düngemittel speziell für Tigray bereit gestellt hatten. Auch die Welthungerhilfe kümmert sich schwerpunktmäßig um die Menschen in Tigray, bezieht aber auch die Menschen in den äthiopischen Nachbarprovinzen Amhara und Afar ein, die von der Krise – auch aufgrund der Angriffe aus Tigray – in gleicher Weise betroffen sind.

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Wer diese neueste Konfliktrunde gestartet hat, ist nicht mit Sicherheit  festzustellen, doch gibt es vielsagende Indizien. Die äthiopische Armee hat ein Flugzeug mit Waffen für die TPLF abgeschossen. Der Sprecher des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Stéphane Dujarric, hat mit deutlichen Worten den Raub von 570 000 Litern Treibstoff durch TPLF-Kräfte angeprangert , der sich just am 24. August im Zuge eines Überfalls der TPLF auf den Stützpunkt des World Food Programme in Mekelle, der Hauptstadt von Tigray, ereignet hatte. Auch Samantha Power, die Chefin der offiziellen US-Agentur für Entwicklungshilfe, hat den dreisten Raub verurteilt.

Wie alles begann

Die Krise im zweitbevölkerungsreichsten Land Afrikas und dem wichtigsten Anker christlicher Tradition in Afrika südlich der Sahara hat tiefe historische Wurzeln. Schon seit jeher fand die Rivalität der Thronprätendenten im Kaiserreich Äthiopien ihren Ausdruck in Gegensätzen auch zwischen den Regionen. Bereits in den 1940er-Jahren brach ein Aufstand in Tigray aus, der jedoch mit Unterstützung der Briten niedergeschlagen wurde. Solche Bestrebungen erhielten erneut Auftrieb in der Endzeit des kommunistischen Derg-Regimes des Militärdiktators Mengistu Haile Maryam, das den letzten Kaiser 1974 ermordet hatte. Die Guerrillagruppe TPLF und die eritreische Unabhängigkeitsbewegung EPLF stellten sich – unter Zurückstellung von Gegensätzen - an die Spitze des inneräthiopischen Widerstands gegen das verhasste Gewaltregime. Gemeinsam führten sie das Ende der kommunistischen Diktatur herbei. Man einigte sich darauf, dass die Eritreer der Tigray-Befreiungsbewegung zur Macht in Äthiopien verhelfen sollten, im Gegenzug sollte Äthiopien unter  TPLF-Führung ein unabhängiges Eritrea anerkennen.

Die Allianz war erfolgreich: 1991 war Eritrea nach 30-jährigem Bürgerkrieg frei, die TPLF übernahm die Herrschaft in Addis Abeba. Bald aber zeigten sich Interessengegensätze, alte Konflikte brachen auf und eine Art „hidden agenda“ aus Tigray, lange Zeit überbrückt durch gemeinsame Interessen mit den Eritreern, kam erneut zum Tragen – die Schaffung eines Gross-Tigray unter Einbeziehung von Teilen Eritreas. Vor diesem Hintergrund kam es zu einer Zuspitzung der Spannungen. Ein eritreisch-äthiopischer Krieg brach 1998 aus, der zu den blutigsten und verlustreichsten Konflikten der vergangenen Jahrzehnte auf dem afrikanischen Kontinent gehört.

Eiszeit des Weder-Krieg-noch Frieden

In der Folge hat die TPLF Regierung fast 80.000 Eritreer in einer Nacht-und-Nebel-Aktion deportiert. Unter internationaler Vermittlung kam es 2000 zu einem Waffenstillstand und einer provisorischen Beilegung der Feindseligkeiten in Algier. Mit Einverständnis der Konfliktparteien legte eine Kommission den genauen Grenzverlauf zwischen Eritrea und Äthiopien/Tigray bei dem an sich bedeutungslosen Ort Bademe fest. Die Entscheidung der Grenzkommission begünstigte die Rechtsauffassung Eritreas.

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Die von der TPLF-Führung gebildete äthiopische Regierung weigerte sich, die Entscheidung zu akzeptieren, informierte sogar die äthiopische Öffentlichkeit falsch, es sei eine Entscheidung zugunsten Äthiopiens gefällt worden. Eine Eiszeit des Weder-Krieg-noch Frieden folgte zwischen den beiden Nachbarländern.

Tauwetter kam erst mit dem Ministerpräsidenten Abiy Ahmed , der 2018 überraschend verkündete, Äthiopien erkenne die Grenzregelung von Algier an. Es kam zu einem äthiopisch-eritreischen Friedensschluss. Die Welt honorierte diese große Geste mit dem Friedensnobelpreis für den äthiopischen Regierungschef.

Viel steht auf dem Spiel

Mit Abiy Ahmed, einem Oromo, endete auch die Tigray-Dominanz in Äthiopien nach 27 Jahren. Er verteilte die Ministerposten in seinem Kabinett ethnisch gerechter, entließ Oppositionelle aus den Gefängnissen und liberalisierte die Medien. Während die Welt den Präsidenten zunächst bejubelte, beklagte die TPLF ihren Machtverlust – Äthiopien drohte ihr zu entgleiten. So wollte sie sich einen eigenen Staat in Tigray schaffen. Es setzte eine Entwicklung ein, die dann zur Eskalation von 2020 führte. Gleichzeitig mit den Massakern vom November dieses Jahres wurden auch Ziele in Eritrea und Nachbarprovinzen Äthiopiens beschossen, erfolgten ethnische Unruhen in verschiedenen Teilen Äthiopiens. Dass die äthiopische Zentralregierung mit militärischen Mitteln auf eine unmittelbare Bedrohung reagierte, wurde von manchen im Westen, die von der geschickten TPLF-Propaganda  beeinflusst waren, negativ bewertet. Die TPLF sieht in einer Destabilisierung Äthiopiens eine Chance für die Schaffung eines unabhängigen Grosstigray. TPLF-Milizen überfielen auch Nachbarregionen – kritisierten aber gleichzeitig die äthiopische Regierung scharf dafür, dass sie sich gegen diese von Tigray aus entfesselte Aggression wandte und militärisch gegen die TPLF vorgeht. Dass auch Eritrea  gegen die TPLF agierte, ist nur selbstverständlich. Während die äthiopische Regierung Frieden und Ausgleich mit Eritrea auf ihre Fahnen geschrieben hatte, bedrohte die militante Expansionspolitik der TPLF nicht zuletzt die Stabilität Eritreas.

Auf dem Spiel steht das christliche Ostafrika. Während die TPLF glaubt, sich durch die Destabilisierung Äthiopiens und Eritreas einen eigenen Staat schaffen zu können, wird faktisch die gesamte Region in Unruhe geraten, könnte der riesige Vielvölkerstaat Äthiopien implodieren, würde das mühsam erreichte Gleichgewicht zwischen Christen und Muslimen gestört werden. Wäre der staatliche Bestand Äthiopiens und Eritreas in Gefahr, könnten zahlreiche alte Wunden aufbrechen, Gegensätze virulent  werden und letztendlich auch religiöse Antagonismen anstelle der jetzigen Koexistenz zum Tragen kommen. Das Horn von Afrika könnte im Chaos versinken. Verlierer wären in jedem Fall das christliche Ostafrika und die Menschen des gesamten Großraums.


Der Autor veröffentlichte 2021 „Das Horn von Afrika“ (Kohlhammer).

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