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20 Prozent weniger Demokratie

Die Wahlrechtsreform ist noch nicht unterzeichnet, da redet der Bundespräsident bereits der nächsten gefährlichen Idee das Wort. Warum die Forderung nach längeren Legislaturperioden ein Unding ist
Steinmeier bei Weiße-Rose-Gedächtnisveranstaltung 2023
Foto: Britta Pedersen (dpa) | Er gibt sich gern als besorgter Verteidiger der Demokratie: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, hier bei einer Weiße-Rose-Gedenkveranstaltung.

Sind im nächsten Bundestag vielleicht weder die CSU noch die Linke vertreten? Scheitert die umstrittene, kürzlich beschlossene Wahlrechtsreform der Bundesregierung nicht doch noch vor dem Bundesverfassungsgericht, dann können sich die derzeitigen Regierungsfraktionen wohl über eine dezimierte politische Konkurrenz freuen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier muss das Reformgesetz nun nur noch unterschreiben – und charakterisiert sie in einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) folgerichtig als Operation am „Herzstück der Volkssouveränität“. Das „Verfahren, mit dem Mehrheiten ermittelt werden“, sei „kein administratives Detail“.

Es ist ja beruhigend, dass sich das Staatsoberhaupt der Relevanz der Frage, wie die Staatsgewalt, die „vom Volke ausgeht“ (Artikel 20 des Grundgesetzes), in legitimer Weise auf die gewählten Repräsentanten des Volkes übertragen wird, bewusst ist. Umso verstörender, dass sich Steinmeier im gleichen Interview nicht nur für eine Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre, sondern auch für eine Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre ausspricht.

Zur Überparteilichkeit verpflichtet

Während bei Vorstößen linker Politiker zur Verringerung des Wahlalters immer leicht der Verdacht aufkommt, damit das eigene Wählerpotential vergrößern zu wollen – bekanntermaßen wählen Erstwähler öfter links als der Durchschnitt – gibt es durchaus Argumente, die für eine Absenkung sprechen. Auch Steinmeiers Hinweis auf die demographische Verschiebung gehört dazu. In der Tat kann es problematisch sein, wenn das Elektorat zu immer größeren Teilen aus Rentnern besteht. Zudem gilt die Unschuldsvermutung auch für Steinmeier: die Vorstellung, dass der als Staatsoberhaupt zur Überparteilichkeit verpflichtete SPD-Politiker mit „ruhender Parteimitgliedschaft“ nun jegliche Bevorzugung seines eigenen weltanschaulichen Lagers hintanstelle mag zwar etwas naiv sein, es sollte aber auch nicht a priori ausgeschlossen werden, dass es Steinmeier in der Frage des Wahlalters um das Wohl der Demokratie geht.

Ein echter Knaller ist hingegen sein Plädoyer für fünfjährige Legislaturperioden auf Bundesebene („mehr Zeit für gesetzgeberische Sacharbeit“), mit dem sich Steinmeier wie in der Frage des Wahlalters auf die Seite seiner Parteifreundin, der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, schlägt. Diese hatte sich im März für eine Verlängerung ausgesprochen – und nebenbei auch eine „verfassungskonforme“ Frauenquote im Parlament angeregt. Dass derartige Ideen nun auch von einem Bundespräsidenten ventiliert werden, dem die Demokratie sowohl nach eigener Aussage – im Interview schwärmt Steinmeier unter anderem von der Revolution von 1848, in der „Untertanen zu Bürgern“ wurden – als auch qua Amt am Herz liegen muss, schockiert.

Weniger Demokratie, mehr Untertanenstatus

Denn was ist eine Verlängerung der Wahlperiode anderes eine Verringerung der Herrschaft des Volkes über sich selbst? Wenn in einem Zeitraum von 20 Jahren nur noch viermal statt fünfmal gewählt wird, dann sind das schlicht 20 Prozent weniger Demokratie – oder 20 Prozent mehr Untertanenstatus, weil der Zeitraum, bis mit der Wahrnehmung des Wahlrechts erstmals wieder Einfluss auf die Regierungspolitik ausgeübt werden kann, 20 (genaugenommen 25) Prozent länger ist. Dass die Legislaturperiode in fast allen Bundesländern auch fünf Jahre beträgt, ist kein Gegenargument – denn dort gibt es in aller Regel für die Bürger die Möglichkeit, per Volksentscheid Einfluss auf die Regierungspolitik zu nehmen. Diese Möglichkeit auch für die Bundesebene vorzuschlagen, fällt Steinmeier aber genauso wenig ein wie derzeit den meisten anderen Parteien. Zuletzt strichen 2020 auch die Grünen diese alte basisdemokratische Forderung aus ihrem Grundsatzprogramm.

Steinmeier warnt im FAZ-Interview davor, dass die Distanz zwischen „Menschen und den demokratischen Institutionen“ wachse, weil die Bereitschaft, sich vor Ort zu engagieren, sinke. Er sollte lieber in sich gehen, und nochmal darüber nachdenken, ob die von ihm befürworteten Änderungen nicht doch die Distanz zwischen Regierten und Regierenden vergrößern könnten - und das Gefühl, mit eigenem Engagement Einfluss nehmen zu können, verringern könnten.

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