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Wünsche Erwachsener über Kinderrechte gestellt

Beim jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Kinderehen fragt man sich erneut: Hat denn keiner der Richter eigene Kinder?
Symbolbilder Bundesverfassungsgericht und Wappen Symbolfoto Bundesverfassungsgericht
Foto: imago-images.de | Nicht nur der Adler ist aus dem Lot geraten, Das Urteil des höchsten deutschen Gerichts zu Kinderehen stellt Erwachseneninteressen über Kinderrechte.

Das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen sei mit dem Grundgesetz unvereinbar, urteilte des Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss, der am Mittwoch bekannt wurde. Begründung: Zwar dürfe der Gesetzgeber im Ausland geschlossene Ehen, bei denen ein Ehepartner zum Zeitpunkt der Eheschließeung unter sechzehn war, ohne Einzelfallprüfung für nichtig erklären. Allerdings müsse er die Möglichkeit einräumen, „die betroffene Auslandsehe nach Erreichen der Volljährigkeit auch nach deutschem Recht als wirksame Ehe führen zu können“. 

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Sonderbare Systematik

Wie kann etwas, das für nichtig erklärt wurde, also in den Augen des Gesetzes nie existiert hat, ab einem bestimmten Zeitpunkt plötzlich gültig existieren?, drängt sich dem juristischen Laien eine erste Frage auf. Aber abgesehen von der rechtlichen nehmen die Bundesverfassungsrichter mit diesem Entscheid auch eine – deutlich schwerwiegendere – moralische Verrenkung in Kauf.

Kinderheirat ist eine gravierende Kinderrechtsverletzung, ein Unrecht, das nicht verschwindet, sobald das betroffene Kind 18 geworden ist. Eines der Nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals 2030) der internationalen Staatengemeinschaft ist die Beendigung der Praxis von Kinderehen bis 2030. Eine Kinderehe als Ehe anzuerkennen, sobald das Opfer – denn genau das sind die betroffenen Kinder im Regelfall – volljährig ist, konterkariert dieses Ziel aufs Gröbste. Aus anderen Zusammenhängen – etwa im Ausland vollzogene Leihmutterschaften zur Umgehung des Verbots im eigenen Land – wissen wir: Wer einer moralisch verwerflichen Praxis nicht vollständig den Riegel vorschiebt, fördert oder zumindest akzeptiert sie.

Tür geschlossen 

Vielleicht haben die Verfassungsrichter vergessen, dass Kinderehen gegen das Recht auf Recht des Kindes auf Mitbestimmung, das Recht auf Gewaltfreiheit und gegen sexuelle Ausbeutung verstoßen? Diesen Tatbestand auf die leichte Schulter zu nehmen, verbietet sich gerade in Zeiten, in denen der Skandal des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger in allen Milieus der Gesellschaft immer offenbarer wird. Hier eine kleine Erinnerung: Unicef schätzt, dass 650 Millionen Mädchen und 115 Millionen Jungen weltweit vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet wurden. Jährlich kommen Millionen hinzu, vor allem in Krisenzeiten. Es ist Überlebensstrategie für Familien, ihre Töchter in die Ehe mit einem oft weit älteren Mann zu geben, damit diese versorgt sind und die Familie eine Zeitlang von der Mitgift leben kann. Gerade Mädchen wird parallel zur frühen Heirat oft der Zugang zu einer Schulbildung verwehrt, die es ihr erlauben könnte, sich selbständig bessere Lebensumstände zu erarbeiten.

Nach Deutschland zu kommen ist für solche Mädchen vielleicht die einzige Chance, einer lebenslangen Verbindung zu entfliehen, die sie sich nie selbst ausgesucht haben. Diese Tür wird ihnen verschlossen, wenn ihre Zwangsehe nur pausiert und dann ab 18 weitergeführt werden kann. Natürlich stellt sich die Frage nach dem materiellen Unterhalt des minderjährigen Parts, wenn die Ehe in Deutschland für nichtig erklärt wird. Dafür wurde jedoch bereits eine Regelung gefunden, denn hier greift in Zukunft das Scheidungsrecht.

Damoklesschwert Volljährigkeit 

Von Kinderehen sind auch immer wieder deutsche Staatsbürger(innen) betroffen, die im Heimatland ihrer Eltern zwangsverheiratet werden. Für diese jungen Menschen ist es auch jetzt schon schwierig genug, das berichten Jugendämter, angesichts des familiären Drucks bei Rückkehr nach Deutschland Anzeige zu erstatten. Wenn nun die Familie und der Ehepartner wissen, dass nur das 18. Lebensjahr abgewartet werden muss, bis eine solche Ehe auch nach deutschem Recht gesetzmäßig ist, dann wird es für die Betroffenen fast unmöglich, zu entkommen. Und wer meint, es sei für die Betroffenen mit 18 leichter, nein zu sagen, als mit 15, verkennt aufs Dramatischste die Reife von Teenagern und psychologischen Dynamiken, die in den betreffenden familiären Situationen am Werk sind.

Einmal mehr drängt sich die Frage auf, ob die Verfassungsrichter selbst keine Kinder haben. Ist es so schwer, sich in ein vierzehnjähriges Mädchen hineinzuversetzen, das im Ausland zwangsverheiratet wurde und dessen 18. Geburtstag nun in Deutschland wie ein Damoklesschwert über seinem Kopf hängt? Einmal mehr fragt man sich unwillkürlich, wo die in Deutschland doch in anderen Zusammenhängen großgeschriebenen Werte der Freiheit und Selbstbestimmung hingekommen sind. Einmal mehr kommt man zu dem Schluss, dass in Deutschland die Wünsche Erwachsener mehr zählen als die Rechte von Kindern.

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