Flüchtlinge

Mussie Zerai: Im Dienst der Menschlichkeit

Der aus Eritrea stammende Priester Mussie Zerai hilft Flüchtlingen, die in Seenot geraten. Sein Glaube hilft ihm, mit der Verantwortung für das Leben anderer umzugehen.
Catholic priest Mussie Zerai in Switzerland
Foto: dpa | Mussie Zerai spricht bei einer Medienveranstaltung in der Schweiz.

3. Mai 2003, mitten in der Nacht. Das Handy klingelt. Ein Blick auf den Wecker verrät, dass es drei Uhr morgens ist. Draußen ist es noch stockdunkel. Mussie Zerai nimmt den Anruf trotzdem an. „Hallo?“ Eine aufgeregte Stimme meldet sich: „Wir sind auf dem Mittelmeer und wir brauchen Hilfe!“ Das muss ein Witz sein, denkt Zerai und sagt es auch. „Wer seid ihr, was wollt ihr von mir?“ Dann hört er Menschen in Panik schreien und weiß: Das ist kein Witz, im Gegenteil: Die Lage ist ernst. Es geht um Leben und Tod.

Seit jener Nacht hat der aus Eritrea stammende Priester Mussie Zerai viele solcher Anrufe erhalten, über 150 000 Flüchtlingen in Seenot soll er das Leben gerettet haben. Seine Telefonnummer ist berühmt. 2003 begleitete er als Dolmetscher einen italienischen Journalisten auf einer Reise durch Libyen. Als er die Geschichten seiner Landsleute in den Haftlagern hört, wird ihm bewusst, dass er etwas gegen das Leid dieser Menschen tun muss: „Ich wusste, dass ich öffentlich anklagen muss, was in diesen Haftlagern vor sich geht, dass ich den Stimmlosen eine Stimme geben muss.“ Den Gefangenen habe er seine Handynummer gegeben, um mit ihnen in Kontakt bleiben zu können. Erst Jahre später fand Zerai heraus, dass seine Nummer in die Wand des Haftzentrums geritzt worden war, zusammen mit dem Hinweis „in Not anrufen.“ Seine Nummer verbreitete sich wie ein Lauffeuer, inzwischen erhält Zerai Anrufe aus der ganzen Welt: Nicht nur aus Eritrea, Äthiopien und Libyen, sondern aus Erdteilen, von denen er nicht einmal die Sprache kennt: Aus Indonesien, Kuba und auch aus der Ukraine.

Dringende Anrufe vom Mittelmeer

Doch die dringendsten Anrufe erreichen ihn vom Mittelmeer. Wenn ihn Flüchtlinge, die in Seenot geraten sind, anrufen, stellt er erst einmal Fragen. Es sind immer die gleichen: Wie viele Leute sind im Boot? Wie viele Frauen und Kinder? Wie lange ist das Boot schon unterwegs? Benötigt jemand an Bord medizinische Hilfe? Was sind die genauen Koordinaten? Der letzte Satz des Priesters der Eritreisch-Katholischen Kirche lautet immer: „Ich bete für euch!“ Am Tag unseres Gesprächs hat der 47-Jährige bereits fünf Anrufe von Flüchtlingen aus Äthiopien und Libyen erhalten. Es ist erst 11 Uhr morgens. Doch das ist bereits sehr viel weniger als noch Jahre zuvor. In der Hochphase der Flüchtlingskrise erreichten ihn bis zu 20 Hilfeanrufe am Tag. Inzwischen haben Bekannte von Zerai aus Deutschland ein „Alarmtelefon“ eingerichtet, das von über 300 Freiwilligen im Schichtdienst betreut wird. Doch selbst wenn die Anrufe weniger werden, es auch mal Nächte gibt, in denen er durchschlafen kann, bleibt die Aufregung immer dieselbe. „Denn in dem Moment, in dem die Leute bei mir anrufen, liegt die Verantwortung für ihr Leben in meiner Hand und ich weiß nie, ob die Küstenwache sie noch rechtzeitig retten kann.“

Die Last nicht alleine tragen

Dennoch wirkt Zerai äußerlich relativ ruhig: Er spricht mit gleichmäßiger tiefer Stimme, seine braunen Augen ruhen immer auf seinem Gesprächspartner. Nur die tiefe Falte, die sich zwischen seinen Augenbrauen in die dunkle Haut eingräbt, wenn er von der Situation der Menschen in Not berichtet, zeugt von der Last, die er seit Jahren trägt. Die Last, für die Sicherheit so vieler Leute zu sorgen. Doch Zerai weiß, dass er diese Last nicht alleine tragen muss: „Die Kraftquelle für all das, was ich tue, ist mein spirituelles Leben. Ohne das Gebet, ohne den Glauben, ohne Meditation könnte ich nicht für all diese Menschen da sein.“ Sein Glaube ist für Zerai auch die Erinnerung, dass das Schicksal dieser Welt und seiner Bewohner nicht in seiner Hand liegt. Doch das muss er sich immer wieder in Erinnerung rufen. Als er bereits mehrere Jahre in der Seenotrettung aktiv war, habe sein Rektor ihn in sein Büro rufen lassen und gesagt: „Denk dran: Du bist nicht der Retter dieser Welt! Der Retter dieser Welt ist Jesus Christus. Du musst alles tun, was in deiner Macht steht, um diesen Leuten zu helfen, aber wenn du alles getan hast, was du kannst, dann überlass den Rest Gott.“ Zerai wiederhole diese Aussage für sich selbst täglich. „Die Leute, denen ich nicht helfen kann, übergebe ich Gott.“

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Davon, selbst ganz im Dienst Gottes als Priester zu stehen, träumte er schon von Kindheit an. Mit 14 Jahren sagt er seiner Großmutter, die täglich zur heiligen Messe geht, dass er ins Priesterseminar eintreten wolle – seine Mutter war bereits gestorben, sein Vater aus der vom Bürgerkrieg geprägten Stadt Asmara in Eritrea geflohen. Doch sein Vater schlägt ihm den Wunsch bei einem Anruf ab. Also geht Zerai zunächst nach Rom, um seinen Vater zu suchen, aber auch um dem krisengebeuteltem Eritrea zu entfliehen, in das Zerai inzwischen nicht mehr einreisen darf, weil er dem Regime immer wieder mangelnde Religionsfreiheit vorwarf. Dort lernt er einen englischen Priester kennen, der ihn als Dolmetscher in der Arbeit mit Flüchtlingen aus Eritrea und Äthiopien beschäftigt. Zerai hilft den Flüchtlingen bei der Suche nach einer Unterkunft, begleitet sie zu Behördengängen, organisiert Sprachkurse.

„Warum wirst du nicht Priester?“

Der Wunsch, Priester zu werden, döst vor sich hin, doch wird sieben Jahre nach seiner Ankunft in Rom wiedererweckt, als eine Frau aus Äthiopien, der er geholfen hatte, die Tür zu seinem Büro aufschwingt und sagt: „Du leistest tolle Arbeit für uns Flüchtlinge, aber wir brauchen nicht nur Essen und Unterkunft, sondern wir haben auch geistliche Bedürfnisse. Also warum wirst du nicht Priester?“ Diese Aussage trifft Zerai wie ein Blitz, da er mit der Frau nie über seinen Wunsch gesprochen habe. „Aber Gott findet immer Wege, um uns aufzuwecken“, stellt Zerai rückblickend fest. Also fasste er den Beschluss, ins Priesterseminar einzutreten. Aber unter einer Bedingung: Er wollte weiterhin Flüchtlingen helfen. Für sein Studium wählte er deswegen im Priesterseminar des Scalabrinianer-Ordens Während Zerai für die einen ein Friedensstifter ist, ist er für die anderen ein Krimineller: Von der Organisation „Pro Asyl“ wurde er mit dem Menschenrechtspreis ausgezeichnet, 2020 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität von Luzern, 2015 wurde er gar für den Friedensnobelpreis nominiert.

Zur selben Zeit wurde der Priester wegen Beihilfe zu illegaler Einwanderung angezeigt, die Anklage wurde inzwischen fallen gelassen. „Ein Teil der Politiker und der Medien kriminalisiert Solidarität, weil sie nicht wollen, dass Flüchtlinge ins Land kommen. Ich habe nichts Kriminelles gemacht. Ich klage nur die Verletzung der Menschenrechte an. Ja, ich klage die Kriminalität der Menschenhändler an“, meint Zerai. Die Kritik, dass er durch die Seenotrettung aber auch das Geschäft der Schleuser am Leben erhält, kann Zerai nicht nachvollziehen: „Den Schleusern ist es egal, ob es NGOs gibt, die die Leute retten oder nicht. Ihnen geht es nur ums Geld. Sie haben die Flüchtlinge auch schon vor der Seenotrettung in seeuntaugliche Boote gesetzt.“ Zerais ganzes Denken und Handeln scheint sich darum zu drehen, wie er Menschen in Not helfen kann – zu jeder Tageszeit.

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