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Diskurs und Sozialethik

Der Mensch ist ein dialogisches Wesen. Zu seiner Vollendung bedarf er der kommunikativen Gemeinschaft. Ein Plädoyer für den kommunikativen Rollentausch.
Schulstreik gegen Wiedereinführung der
Foto: Imago/Henricus Lüschen | Schüler streiken gegen die Widereinführung der Wehrpflicht. Auch bei dieser Debatte müssen junge Menschen ebenso zu Wort kommen, genauso wie andere Akteure.

Einen ernsthaften, friedvollen und gründlichen Diskurs führen“ – mit dieser Einladung wendet sich Papst Leo XIV. an die Weltgemeinschaft und konstatiert nüchtern: „Es gibt so wenig Dialog um uns herum; Geschrei ersetzt ihn oft, nicht selten in Form von Fake News und irrationalen Argumenten, die von einigen lauten Stimmen vorgetragen werden.“ Wie aber können Diskurse unter solch widrigen Bedingungen gelingen? Wie kann die katholische Soziallehre durch Diskurse an gesellschaftlicher Relevanz gewinnen?

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Wer argumentiert, steht für etwas ein. Wer vor anderen für etwas einsteht, übernimmt Verpflichtungen, die unbedingt gelten. Deshalb erliegt die Diskursethik nicht dem Relativismus, wie oft voreilig behauptet wird. Im Gegenteil: Sie zeigt auf, dass es ethische Prinzipien gibt, an die jeder Diskurspartner gebunden ist, wenn er sinnvoll argumentieren will: Wer mit anderen nach Verständigung sucht, muss deren Menschenwürde achten – unabhängig von Alter, Geschlecht, Gesundheit, Hautfarbe, Kaufkraft, Nationalität sowie religiöser und sexueller Orientierung. Auch setzt die gemeinsame Wahrheitssuche das Lügenverbot voraus. Nur wer im Diskurs wahrhaftig argumentiert, kann das moralisch Richtige gemeinsam erkennen.

Personalität und Sozialität: Gott hat den Menschen als einmalige Person mit unantastbarer Würde nach seinem Ebenbild erschaffen, nicht als Monadensubstanz, sondern als Beziehungswesen. Der Mensch ist von Geburt an auf andere bezogen und von Natur aus ein dialogisches Wesen. Ohne Dialog, ohne Gedanken zu formulieren und auszutauschen, kann sich der Mensch nicht entfalten. Die sozialethischen Prinzipien der Personalität und Sozialität bedingen sich, weil der Mensch zu seiner Vollendung der kommunikativen Gemeinschaft bedarf.

Wie viel Raum kann dem Einzelnen gewährt werden?

Daraus ergibt sich jedoch die spannungsreiche Frage, wie viel Raum dem Einzelnen für seine freie Entfaltung gewährt werden kann, angesichts der Ansprüche anderer. Diese Frage stellt sich konkret etwa in der Debatte um Sonntagsarbeit und Wehrpflicht. Nur im Diskurs der Betroffenen kann eine situationsgerechte Balance gefunden werden. Bei der Sonntagsarbeit müssen Arbeitnehmer und Arbeitgeber mit Gläubigen und Säkularen klären, welche Branchen aus Gründen der Daseinsvorsorge die Sonntagsarbeit benötigen. Wie können zugleich die Rechte derjenigen geschützt werden, die aus religiösen Gründen den Sonntag heiligen wollen?

Bei der Wehrpflichtdebatte müssen junge Menschen ebenso zu Wort kommen wie Sicherheitsexperten sowie Vertreter sozialer Dienste: Gefährdet die Aussetzung der Wehrpflicht die Verteidigungsfähigkeit des Landes? Kann ein allgemeiner Dienst an der Gesellschaft zur Stärkung des Gemeinsinns beitragen? Wie werden die Rechte von Kriegsdienstverweigerern aus Gewissensgründen geschützt? Diese Beispiele zeigen: Je besser die Kommunikationsverhältnisse ausgestaltet werden, desto freier können sich die Individuen mit ihren vielfältigen Potenzialen entfalten und in der Gesellschaft füreinander da sein.

Subsidiarität und Solidarität: Das Solidaritätsprinzip fordert die Unterstützung des Schwachen durch den Stärkeren, wenn dieser der Unterstützung bedarf und jener dazu in der Lage ist. Ergänzend dazu regelt der Subsidiaritätsgrundsatz die Zuständigkeiten von Individuen, Familie und Gesellschaft. Dasjenige, was der Einzelne selbst leisten kann, sollte ihm auch zugemutet werden. Die staatliche Gemeinschaft ist jedoch zur Hilfestellung verpflichtet, wenn eine Person oder ihre Familie das angestrebte Gut nicht mehr sicherstellen kann.

So viel Freiraum wie möglich, so viel Unterstützung wie nötig – doch wo verläuft die Grenze? Das Beispiel pflegebedürftiger Menschen verdeutlicht die Problematik: Bis zu welchem Grad der Betreuungsbedürftigkeit kann die Pflege eines altersschwachen Menschen von der Familie zu Hause selbst geleistet werden? Wann bedarf es der organisatorischen und finanziellen Unterstützung durch staatliche Instanzen? Welche Pflegestufe ist angebracht? Besteht gar ein permanenter Betreuungsbedarf? Diese Fragen müssen von den Pflegebedürftigen und ihren Familienangehörigen gemeinsam mit Pflegekräften und Gutachtern geklärt werden – in Gesprächen, in denen sich alle Beteiligten auf Augenhöhe begegnen.

Nicht jedem das Gleiche, sondern das ihm Gemäße

Gerechtigkeit und Barmherzigkeit: Nicht jedem das Gleiche, sondern das ihm Gemäße zu geben, ist die primäre Forderung des sozialethischen Gerechtigkeitsprinzips, dessen konkrete inhaltliche Ausgestaltung und situative Anwendung eines Diskurses bedarf: Nach welchen Kriterien sollte z. B. ein mittelständisches Unternehmen entscheiden, das aufgrund eines schlechten Geschäftsverlaufes Mitarbeiter entlassen muss? Nach Betriebszugehörigkeit, Leistung oder sozialen Härtefällen? Um trotz widerstreitender Interessen eine verträgliche Lösung finden zu können, bedarf es eines Dialogs von Geschäftsführung, Mitarbeitern, Betriebsrat und Arbeitsrechtsexperten.

„Die Gerechtigkeit ist das Mindestmaß der Liebe, die Liebe das Übermaß“ (Walter Kasper). Das Liebesgeschehen, zu dem wir Menschen als Kinder Gottes berufen sind, konkretisiert sich in Werken der Barmherzigkeit. Wenn wir uns unentgeltlich herschenken, einander verzeihen und geduldig ertragen, dann wandeln wir auf den barmherzigen Spuren Christi.

Eine solch gerechte und zugleich barmherzige Lebensführung bedarf des aufmerksamen Zuhörens, um die konkrete Situation zu verstehen: Wer bedarf meiner Barmherzigkeit – wie, wann und wo konkret? Wie kann ich Hilfe organisieren? Karitative Dienste – von der Bahnhofsmission bis zur Hospizarbeit – leben von diesem ständigen Diskurs zwischen Helfenden und Hilfesuchenden, zwischen hauptamtlichen Fachkräften und ehrenamtlichen Helfern.

Gemeinwohl und Nachhaltigkeit: Das Prinzip des Gemeinwohls zielt auf das gute Leben aller Mitglieder einer Gesellschaft – sowohl national als auch weltweit. Ergänzend dazu bringt das Prinzip der Nachhaltigkeit die Interessen künftiger Generationen ins Spiel. Dies kann zu Spannungen führen: Soll der Staat Milliarden in klimaneutrale Infrastruktur investieren, während gleichzeitig Tafeln überlastet sind und Kinderarmut zunimmt? Sozialverbände fordern höhere Transferleistungen, Umweltverbände konsequenten Klimaschutz. In Haushaltsdebatten müssen all diese Stimmen Gehör finden, durch Ethikbeauftragte reflektiert und in Zukunftskommissionen erwogen werden, um eine Balance zwischen sozialem Gemeinwohl und ökologischer Nachhaltigkeit zu finden.

Die Stimme der Stummen: Unsere Nachfahren, die von den ökologischen und ökonomischen Folgen unserer Entscheidungen betroffen sein werden, können heute noch nicht mitdiskutieren. Was ist denn mit all jenen Menschen, die ihre Ansprüche nicht selbst in den Diskurs einbringen können? Dabei ist an ungeborene Kinder im Mutterleib ebenso zu denken wie an Komapatienten – sie alle können nicht selbst argumentieren und ihre Interessen vertreten.

Deshalb betont die Diskursethik mit der christlichen Soziallehre, dass allen Menschen eine unantastbare Würde zukommt, auch den ungeborenen und kranken. Da sie ihre Argumente nicht selbst vortragen können, müssen sie im Diskurs von anderen advokatorisch vertreten werden, um ihr Recht auf Leben artikulieren zu können. Denken wir auch an die über 10 000 Menschen weltweit, die heute noch vor Hunger sterben werden. Ihr Schicksal ist ein Anruf an uns, ihre Interessen wortgewaltig zu vertreten und Hilfe zu organisieren.

Ein jeder von uns ist anfällig dafür

Als Christen erblicken wir in jedem anderen – unabhängig davon, ob er uns nah oder fern steht – ein geschwisterliches Du; Diskursethiker erkennen in jedem anderen, ob geboren oder ungeboren, einen Argumentationspartner auf der Suche nach dem moralisch richtigen Weg. Mit allen gemeinsam bilden wir zusammen eine reale Kommunikationsgemeinschaft, die jedoch oftmals von Lug und Trug gezeichnet ist, wie Papst Leo es zu Recht beklagt. Ein jeder von uns ist anfällig dafür, seine Interessen im alltäglichen Überlebenskampf auf unredliche Weise zu vertreten; immer wieder erleben wir nicht nur bei anderen ein Tarnen, Tricksen und Taktieren, um Positionen erfolgreich durchzusetzen.

Gerade deshalb benötigen wir eine ethische Orientierung durch gründliche Diskurse, um die reichen Prinzipien der Soziallehre für unsere herausfordernde Lebenswelt inhaltlich zu entfalten. Dann erkennen wir im anderen nicht den Gegner, sondern einen Partner, mit dem wir uns verbunden wissen. Ein solches Miteinander lässt sich am besten einüben, indem wir uns im Spiegel des anderen sehen. Das geht nur kommunikativ: Wir müssen einander zuhören, um die wechselseitigen Argumente zu verstehen. Was sagt uns die alleinerziehende Mutter, wenn wir ihr kündigen?

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Wie würde das ungeborene Kind argumentieren, dessen Lebensrecht bestritten wird? Welche Ansprüche macht der Mensch geltend, der noch heute vor Hunger sterben wird? Was würden wir an ihrer Stelle sagen? Wenn wir einen solchen diskursiven Rollentausch wagen, lernen wir, die Welt aus der Perspektive der anderen zu sehen und begreifen, was zu tun ist, um das Gemeinwohl zu mehren – hier und jetzt, ganz konkret.


Der Autor lehrt Philosophie an der Universität Siegen, der WHU Vallendar und der Hochschule für Philosophie München.

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