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Gaza: Wunderschön und zerrissen

Wie lebt es sich an dem Ort, an dem der nächste Krieg nie weit weg ist? Ein Erfahrungsbericht aus Gaza zur Zeit der zweiten Intifada.
Gaza Strand
Foto: imago stock&people (imago stock&people) | Eine arabische Stadt am Meer - und eine verwirrende Melange aus Strand, Gastfreundschaft und Antisemitismus.

Ich habe einmal in Gaza gelebt und gearbeitet. Das ist schon eine Weile her. Mein Aufenthalt fand sein dramatisches und tragisches Ende mit dem Ausbruch der Zweiten Intifada. Ich war damals, am 28. September 2000, gerade für eine kurze Auszeit von der Arbeit in Jerusalem. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon fast drei Monate im Land gearbeitet, eigentlich ohne Pause und die zwei Tage Freizeit in jener Stadt, die ich genauso liebe wie meine eigene Heimatstadt Wien, waren mir sehr recht.

Nach stundenlangem Bummeln durch die Altstadt saß ich nachmittags auf der Terrasse des Cafés von Notre Dame vis-a-vis des Neuen Tores, also auf erhöhtem Gelände mit gutem Blick über die Altstadt – fast so gut wie vom Dach des Österreichischen Hospizes, aber nur fast. Dann stieg plötzlich Rauch auf über der Altstadt, in der Gegend des Tempelbergs. Das Sirenengeheul verschiedener Einsatzwagen schwoll rasch an und schien nicht mehr abzureißen.

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Es war gerade Wahlkampf in Israel und der damalige Oppositionsführer, der mittlerweile verstorbene spätere Premierminister Ariel Sharon, hatte mit seinem – mit der zuständigen palästinensischen Behörde vorab vereinbarten und genehmigten – Besuch des Tempelbergs Proteste von Palästinensern ausgelöst. Als die Situation sich beruhigte, quartierte ich mich für eine Nacht im Paulushaus gegenüber dem Damaskustor ein, denn im Österreichischen Hospiz war kein Zimmer mehr frei. Am folgenden Tag wurde ich Zeuge eines Ausbruchs von Gewalt, die direkt zwischen Paulushaus und Damaskustor mit besonderer Heftigkeit ausgetragen wurde: Tausende, vor allem palästinensische Jugendliche traten einer großen Zahl der israelischen, teils berittenen Polizei entgegen.

Ich hatte eben mein Quartier verlassen und wollte gerade die Sultan-Süleyman-Straße hin zur Altstadt überqueren, als ich die Totenstille und Menschenleere bemerkte. Ich blieb auf der Verkehrsinsel stehen, blicke in beide Richtungen und wurde der Situation gewahr. Die demonstrierenden Jugendlichen kamen rasch sehr nahe. Im nächsten Moment galoppierte vor und hinter mir die berittene Polizei vorbei, mir schien, als seien es Hunderte. Ich hatte den Schweißgeruch der Pferde in der Nase, ein nicht enden wollender Kavallerieangriff – wie im falschen Film. Meinerseits eine Schockstarre, die sich erst löste, als die Polizei wieder in die Gegenrichtung zurückritt, gleichsam gemächlich in die Ausgangsposition. Ich drehte auf der Stelle um, rannte zurück ins Paulushaus und beobachtete die weiteren Auseinandersetzungen von meinem Quartier aus, wie von einer Theaterloge.

Ein Lynchmord und seine Folgen

An diesem Tag starben dort vier Jugendliche, etwa 200 Menschen wurden verletzt, Palästinenser wie auch Israelis. Ich kehrte noch am selben Tag zurück nach Gaza, der Übertritt am Checkpoint Erez war völlig problemlos. Ich lebte und arbeitete in Gaza zunächst weiter bis zum ersten Luftangriff der israelischen Streitkräfte auf Gaza-Stadt im Zuge dieser Intifada. Das war der Tag des Lynchmordes an zwei israelischen Reservisten durch einen Mob von etwa tausend Palästinensern in Ramallah am 12. Oktober. Ein italienisches Fernsehteam filmte die unglaublich grausamen Vorkommnisse, die gehäuteten und angebrannten Körper, die johlende Menge. Die Aufnahmen gingen um die Welt und prägten sich auch in mein Gedächtnis für immer ein.

In unmittelbarer Reaktion beschossen israelische Kampfhubschrauber Ziele der palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland und im Gazastreifen, auch die Regierungsgebäude am südlichen Ende von Gaza-Hafen. Am nördlichen Ende lag meine Unterkunft im zehnten Stock eines hohen und neuen, noch nicht ganz fertig gestellten Apartmenthauses. Der Rotorlärm der Kampfhubschrauber lockte mich ans Fenster, und ich konnte die Piloten des nächstschwebenden Hubschraubers in der Flugkanzel wahrnehmen – einen Augenblick, bevor er sein erstes Geschoss aus der Verankerung löste. Ich wandte mich sofort zur Flucht, kam dabei nur einen Schritt weit, als mich die Wucht des Einschlags – in das Gebäude auf der anderen Seite des Hafens – taumelnd das Gleichgewicht verlieren ließ. Ich verbrachte die nächsten Stunden und die Nacht mit anderen Menschen im Keller des Apartmenthauses und verließ am nächsten Tag unter abenteuerlichen Umständen Gaza, tags darauf auch das Land Richtung Heimat.

Kleine grüne Oasen, wo immer es geht

Gaza ist ein wunderschöner Streifen Land. Eigentlich ein endloser, sehr breiter Strand mit Obstgärten im Hinterland. Wenn auch nur ein geringerer Prozentsatz der Fläche landwirtschaftlich gut nutzbar ist, pflegen die Menschen ihr Grün überall, wo sie können und schaffen sich ihre kleinen oder größeren, grünen Oasen – und wenn es nur auf den Balkonen ist. Das Meer lädt überall zum Baden ein, denn der Nil schiebt seit Jahrmillionen das afrikanische Sediment, das er in seinem Lauf aufnimmt, hier ins Mittelmeer und den Gazastreifen entlang nach Norden.

Drei größere Städte gibt es dort, von denen ich nur die nördlichste kenne: Gaza-Stadt; dann schließen sich südlich die Städte Khan Yunis und Rafah an. Auch die nördlichen Vorstädte von Gaza wie Beth Lahiya oder Dschabalia kenne ich nur vom Vorbeifahren. Gaza-Stadt ist eine von vielen arabischen Städten entlang der östlichen Küste des Mittelmeeres. Ich war mir natürlich der Redewendung von Gaza als „größtes Freiluftgefängnis der Welt“ gewahr. Flüchtlingslager wie al-Schati habe ich ebenso nur von außen gesehen. Aber ich habe sehr wohl lange unter den Menschen und mit ihnen gelebt, hatte palästinensische Mitarbeiter und bin zu ihren Familien nach Hause zum Essen eingeladen worden. Ich bin jeden Tag einkaufen gegangen, weil ich fast jeden Tag kochen musste und habe dabei jede Gelegenheit genützt, um mein damals noch passables Arabisch zu üben, ich habe Hochschulen besucht und bin mit Studierenden und Lehrenden ins Gespräch über mögliche künftige Wissenschaftskooperationen gekommen.

Gastfreundschaft und Antisemitismus

Die Menschen in Gaza waren sehr offen und sehr gastfreundlich. Keinesfalls habe ich Ablehnung oder auch nur Desinteresse erlebt. Es war eine beruflich sehr anstrengende, menschlich sehr schöne Zeit. Eine unangenehme Sache muss ich hier offen ansprechen: Österreich ist im Arabischen Raum nicht jedem Menschen sofort ein Begriff, wird manchmal auch mit Deutschland gleichgesetzt. Als Österreicher versucht man dann gerade bei Palästinensern den Diskurs auf den ehemaligen Bundeskanzler Bruno Kreisky zu lenken, der sich ja – selbst jüdischer Herkunft – für die „palästinensische Sache“ auf internationaler Politbühne stark gemacht hatte. Und bei manchen Gesprächspartnern gibt es dann „ah, ja“. Doch jedes Mal kamen meine Gesprächspartner in Gaza auf einen anderen Österreicher voller Bewunderung zu sprechen, an den man selbst nicht gerne denkt: Adolf Hitler. Nicht bloß einmal habe ich dabei hören müssen: „Schade, dass er seine Sache mit den Juden nicht beenden konnte.“ Das war für mich immer furchtbar, sehr schmerzhaft.

So habe ich Gaza und seine Menschen kennengerlernt und erlebt – vor fast einem Vierteljahrhundert. Es war damals noch die Zeit der israelischen Besatzung. Die Hamas spielte noch kaum eine Rolle. Mir schienen die Menschen auch einerseits zufrieden mit dem Jetzt, zukunftsbewusst und mit großem Gottvertrauen ausgestattet. Aber der Judenhass war damals schon offenkundig vom Ältesten bis zum Jüngsten heftig und präsent.

Das übrige Vertrauen ist wohl vernichtet

Hat Gaza eine Zukunft? Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wie es in Gaza weitergehen könnte. Ich habe das Gefühl, dass alles gegenseitige Vertrauen, das auf beiden Seiten über Jahre und Jahrzehnte aufgebaut worden war, nun vernichtet worden ist. Ich sehe den Boden nicht, auf dem eine Saat des Miteinander wieder aufgehen könnte. Wenn man – auch in der Rückschau – nüchtern und realistisch ist, muss man konkludieren, dass die Zweistaatenlösung zwar die ganze Welt will. Nur zwei Parteien nicht: die Palästinenser und die Israelis. Die Palästinenser wohl noch weniger. Ich habe in meinem gesamten Leben noch nie einen Palästinenser gesprochen, der tatsächlich für eine Zweistaatenlösung gewesen wäre. Und für Israelis wäre meiner Gesprächserfahrung nach eine Zweistaatenlösung im Sinne einer Sicherheitsgarantie für Israel ein notwendiger, wenn auch schmerzender Kompromiss, wobei Israel ja ohnehin schon sehr klein ist und die Palästinenser ja ohnehin schon Jordanien haben.

Ich habe bis zum Oktober 2000 in meiner akademischen Laufbahn immer wieder Vorträge sowie Lehrveranstaltungen zum Themenkomplex Israel und Palästina gehalten. Seitdem habe ich dazu über weite Strecken geschwiegen. Mein Erleben der Zweiten Intifada hat mir gleichsam die Sprache verschlagen. Ich habe für mich persönlich erarbeitet, dass eine explizit pro-palästinensische Position den Palästinensern nicht hilft und eine explizit pro-israelische Position den Israelis nicht. Beides wird der Komplexität der Situation und der Not der Menschen nicht gerecht. Um das Dreschen stumpfer Phrasen zu vermeiden, habe ich mich beruflich offen gar nicht mehr geäußert. Das erste, woran ich gedacht habe, als ich für diese Zeilen angefragt wurde, war: Weinen ohne Tränen …


Friedrich Schipper ist Professor für Biblische Archäologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. in Heiligenkreuz.

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