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Braucht Europa nukleare Abschreckung?

Trump, Russland, Ukrainekrieg: Angesichts wachsender Unsicherheit wird auch wieder über die nukleare Abschreckungsfähigkeit Europas diskutiert. Aber sind Atomwaffen wirklich unverzichtbar? Hier die Argumente im Pro & Contra.
Atomtest "Dominic Bluestone"
Foto: gemeinfrei | Bis 1963 Praxis der Großmächte: Kernwaffentests in der Atmosphäre. Auch heute ist die nukleare Abschreckung noch ein Eckstein der Verteidigung der NATO.

Sollte Donald Trump im November die Präsidentschaftswahl gewinnen, dann könnte er die amerikanische Beistandsverpflichtung im Rahmen der NATO, die in diesen Tagen 75 Jahre alt wird, infrage stellen – und damit auch die Abschreckungswirkung des amerikanischen „nuklearen Schutzschirms“. Europa, dies zumindest fürchten einige Politiker, müsste sich gerade angesichts des russischen Expansionsstrebens gegebenenfalls alleine verteidigen können – und benötige deshalb möglicherweise auch ein eigenes schlagkräftiges Atomwaffenarsenal. Aus Sicht der katholischen Kirche jedoch war die Frage der Legitimität von Atomwaffen stets hoch umstritten. So schreiben die deutschen Bischöfe in ihrem aktuellen „Friedenswort“, es sei höchste Zeit, aus der nuklearen Abschreckung auszusteigen. Grund genug, erneut über die Frage nachzudenken, die schon in den 1980er Jahren im Gefolge des NATO-Doppelbeschlusses zu hitzigen Debatten führte: Brauchen wir in Europa nukleare Abschreckung? Ja, meint Andreas Lutsch. Eine Welt ohne Atomwaffen sei Wunschdenken. Nein, meint Heinz-Günther Stobbe. Realismus hin oder her – atomare Abschreckung sei moralisch verwerflich (jra).


Pro: Abschreckung bleibt nötig

Die Staaten Europas brauchen die nukleare Abschreckung, weil ihre Regierungen kalkulieren, dass sie nötig ist, solange es nukleare Bedrohungen gibt. Dabei ist die Vorstellung, eine Welt ohne Kernwaffen sei durch den Menschen erreichbar, Wunschdenken, Selbstbetrug, Schmiermittel für Rüstungskontrollpolitik oder eine Täuschung. Es gab eine nukleare Revolution. Trotz gegenrevolutionärer Mahnungen ist sie nicht rückgängig zu machen.

Die paradoxale nukleare Abschreckung hat nahezu sicher stark dazu beigetragen, Kriege zwischen Großmächten zu verhindern, auch weil sie Spannungen und Risiken erhöht hat. Unter bestimmten Bedingungen entzieht sie sich gerade nicht einer sozialethischen Tolerierbarkeit oder Akzeptabilität, auch nicht aus katholischer Perspektive. Es sollte nicht vergessen werden, dass der nukleare Schutz durch die USA die deutsche Wiedervereinigung in Freiheit mitermöglicht hat. Auch im 21. Jahrhundert bleiben die Staaten aufgerufen, friedlichen Wandel in den internationalen Beziehungen anzustreben und nukleare Risiken zu verringern, ohne dass neue Gefährdungen entstehen.

In ihrem Ukraine-Krieg drohte die Führung Russlands wiederholt rhetorisch damit, Kernwaffen einzusetzen. In der Ukraine führt Russland einen Expansionskrieg gegen einen Nichtkernwaffenstaat, dessen territoriale Integrität Russland mehrfach völkerrechtlich bekräftigte. Russland nutzt nukleare Abschreckung als Zwangsmittel, um den territorialen Status quo im Europa des 21. Jahrhunderts gewaltsam zu verändern. Mit diesen ungeheuerlichen Veränderungen ist auch eine Vorbedingung für den Kernwaffenverzicht anderer Nichtkernwaffenstaaten weggefallen. Sie verzichteten in der Erwartung, dass Atommächte Kernwaffen nicht machtpolitisch missbrauchen.

Ein Ende der nuklearen Abschreckung ist nicht in Sicht

Zudem rüstet die Volksrepublik China nuklear auf. Nicht nur Russland, sondern auch China wird zukünftig formidabel nuklear gerüstet sein. Schon jetzt deutet ihr Verhältnis auf eine strategische Entente gegen die USA hin. Und möglicherweise ist es aktuell bereits oberste Priorität der USA, eine günstige Machtbalance in Asien zu wahren.

Hinzu kommen alte, neue Ungewissheiten über die zukünftige Rolle der USA als wichtigster Ordnungsmacht in Europa. Es ist nicht auszuschließen, aber äußerst unwahrscheinlich, dass die USA zukünftig – unter einem Präsidenten Donald Trump oder wem auch immer im Weißen Haus – ihre Definition vitaler, also lebensnotwendiger, nationaler US-amerikanischer Sicherheitsinteressen ändern, welche die US-Regierungen bisher zu dem Schluss kommen ließen, dass Europa des nuklearen Schutzes durch die USA bedürfe. Das eminent machtpolitische nationale Interesse der USA darf hier nicht geringgeschätzt werden, insbesondere angesichts der Rivalität mit China. Und speziell bei Trump sollten Unterschiede zwischen Erscheinungsbild und Substanz nicht unterschätzt werden. Seit den frühen 1960er Jahren und aktuell gibt es, soweit offen erkennbar, keinen europäischen Staat, der eine Änderung der Architektur der westlichen nuklearen Abschreckung anstrebte. Nichtverbreitung von Kernwaffen war stets auch eine hohe Priorität der USA, was nicht heißt, dass den USA Nichtverbreitung stets wichtiger wäre als ihr Bündnis wenigstens mit geopolitischen Schlüsselpartnern.

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Was passiert, wenn es nach einer Wiederwahl Trumps wider Erwarten doch zu einer fundamentalen Veränderung der US-Verpflichtungen gegenüber der NATO kommt? Prognosen, also Vorhersagen, wären unseriös. Aber Einschätzungen sind möglich. Ein Ende der nuklearen Abschreckung würde es nicht bedeuten. Prinzipielle alternative Zukünfte in kurzfristiger Hinsicht wären: bilaterale Verträge der USA mit bestimmten Partnern oder eine neue europäische Sicherheitsordnung, in der auch nicht-nukleare Staaten mit Russland kooperieren bzw. in Abhängigkeit von der Nuklearmacht Russland geraten würden. Optionen, die auf die nationalen Nuklearpotenziale Frankreichs oder Großbritanniens abstellen, würden nahezu sicher nicht genügen, um machtpolitischem Druck aus Russland standhalten zu können.

Andreas Lutsch ist Juniorprofessor für nachrichtendienstliche Analyse in der Abteilung Bundesnachrichtendienst der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung.


Contra: Atomwaffen sind Barbarei

Nachdem es nach der sogenannten Nachrüstungsdebatte eine ganze Weile recht still um die Atomwaffen und das System atomarer Abschreckung geworden war, haben sich in jüngster Zeit wieder vermehrt Stimmen zu Wort gemeldet, die mit Rücksicht auf den Krieg in der Ukraine und die Nukleardrohungen aus dem Kreml sowie die Unsicherheit der amerikanischen Nukleargarantie eine eigenständige europäische Nuklearmacht oder sogar deutsche Atomwaffen fordern. Diese neu aufflammende Diskussion gleicht den in der Vergangenheit geführten insofern, als erneut zugunsten der atomaren Abschreckung hauptsächlich militärische und sicherheitspolitische Argumente ins Feld geführt werden, moralische Bedenken hingegen weitgehend ausgespart bleiben, ja manche Äußerungen durch ihre moralische Unbekümmertheit auffallen.

Moral genießt in der Politik ganz allgemein keinen guten Ruf, gilt meist als weltfremd und mitunter sogar als gefährlich, weil sie soziale, wirtschaftliche, politische und schließlich auch militärische Konflikte in einer Weise auflade, die ihre Lösung erschwere oder unmöglich mache. Im Fall der atomaren Abschreckung fällt diese moralische Abstinenz dennoch besonders auf, weil die Atomwaffen bereits ethisch begründete Einwände hervorriefen, als sie noch gar nicht zur Verfügung standen und eingesetzt werden konnten. Sie wurden laut im Kreis der Wissenschaftler, die direkt am Bau der Bombe beteiligt waren, geäußert, zuerst von Joseph Rothblat und Leo Szilard. Sie bilden die ersten Glieder einer langen Kette von Wissenschaftlern, Politikern und sogar Militärs (vor allem aus dem Bereich der Marine), die eine Fortsetzung der nuklearen Rüstung als moralischen Irrweg ablehnten. Aber keine der zahllosen später folgenden Resolutionen und Alternativvorschläge, aber auch keine Demonstration und kein Protest vermochte es, den Kurs der Regierungen entscheidend zu beeinflussen oder gar aufzuhalten. Der Irrwitz des nuklearen Wettrüstens nahm seinen Lauf, als sei er von einer mythischen Schicksalsmacht vorherbestimmt, und nun, nachdem er gegen Ende des Kalten Krieges für einen historischen Wimpernschlag lang wider Erwarten tatsächlich ein Ende zu finden schien, nimmt er erneut Fahrt auf: die Architektur der Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge wurde abgerissen und allenthalben werden die nuklearen Arsenale modernisiert und zeitgemäße Kriegsführungsszenarien entworfen. Auch der UN-Atomwaffenverbotsvertrag hat bei den Atommächten bisher keinerlei Eindruck hinterlassen.

Das Schlimmste tatsächlich ausführen

Es fällt in Anbetracht dieses jahrzehntelangen Scheiterns leicht, den Kampf gegen Atomwaffen als illusionär zu bewerten und für eine „realistische“ Politik zu plädieren. Doch es geht hier nicht darum, über den Wirklichkeitssinn der Befürworter oder Gegner der atomaren Abschreckung zu debattieren, sondern über ihre moralische Rechtfertigung. Dafür aber taugt der selbst ernannte Realismus nur sehr bedingt. Mord gibt es seit Kain und Abel auf der Erde und vermutlich bis zum Ende der Zeit, doch niemand dürfte deswegen Mord für moralisch gerechtfertigt halten. Wir finden ihn nicht einmal moralisch hinnehmbar, sondern wollen Morde verhindern und Mörder bestrafen. Weshalb also sollten wir im Falle der Atomwaffen anders denken und handeln?

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Keines der ausgeklügelten und ausgefeilten Konzepte atomarer Abschreckung hat es bislang vermocht, das einfache moralische Grunddilemma aufzulösen, das mit ihr untrennbar verbunden ist, nämlich dem potenziellen Kriegsgegner glaubhaft androhen zu müssen, was moralisch verwerflich ist. Denn atomare Abschreckung heißt eben dies: das Schlimmste nicht nur denken zu müssen, sondern auch bereit zu sein, im Ernstfall das Schlimmste tatsächlich auszuführen, im Klartext: „den willkürlichen Massenmord an Männern, Frauen und Kindern“ – so der US-Konteradmiral R-A. Ofstie im Jahr 1949. Jeder Einsatz einer auch nur taktischen Atomwaffe, der für sich genommen kein schlimmeres Übel darstellen mag als der Einsatz bestimmter konventioneller Waffen, bezieht ihren Sinn nicht aus einem überschaubaren militärischen Vorteil, sondern wesentlich aus seiner Eigenschaft als Element einer Eskalationsskala, die unabdingbar in das denkbar Schlimmste mündet. Die Barbarei eines Atomkrieges beginnt längst vor seinem Beginn. Mit einem früher sogenannten gerechten Krieg hat sie nichts zu tun.

Heinz-Günther Stobbe ist emeritierter Professor für Systematische Theologie und theologische Friedensforschung der Uni Siegen und Moderator für den Arbeitsbereich Frieden der Deutschen Kommission Justitia et Pax.

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