Sie gilt als die schwächste Stelle der NATO: die Suwalki-Lücke, ein rund 65 Kilometer schmaler Streifen Land zwischen Polen und Litauen. An einem Ende dieses Streifens liegt Belarus, am anderen die russische Exklave Kaliningrad. Benannt ist der Korridor nach dem polnischen Ort Suwalki. Seit der russischen Annexion der Krim und dem völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine wächst in den baltischen Staaten die Angst, man könne als nächster dran sein. Die Sorge ist: Mit einem schnellen Vorstoß könnten Moskaus Truppen diese Lücke besetzen und damit die Versorgung des Baltikums auf dem Landweg abschneiden.
Abschreckung ist daher an der NATO-Ostflanke das Gebot der Stunde. Das Zusammenspiel der NATO-Truppen wird dieses Jahr bei der Großübung "Stedfast Defender2024" trainiert. Zehntausende Soldatinnen und Soldaten aus allen 32 NATO-Mitgliedstaaten üben die Alarmierung nach dem Bündnisfall, die Vorbereitung auf den Einsatz, das Verlegen großer Truppenteile in die Einsatzräume und die Abwehr des Aggressors im Gefecht. Der deutsche Beitrag von vier Teilübungen firmiert als "Quadriga 2024". Im April schickt die Bundeswehr ein Vorkommando nach Litauen, um die Pläne für die dauerhafte Stationierung einer Bundeswehrbrigade voranzutreiben. Die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen mit ihren insgesamt nur rund sechs Millionen Einwohnern sind die einzigen früheren Sowjet-Republiken, die zur NATO gehören. Die Zugehörigkeit zur Allianz gilt ihnen als Überlebensgarantie.
Macron sprach vom Hirntod der NATO
Doch die Zukunft des Militärbündnisses, das im April 75 Jahre alt wird, ist alles andere als sicher. Denn Amerika wählt einen neuen Präsidenten. Der ehemalige US-Präsident Donald Trump schürt als Präsidentschaftskandidat der Republikaner im Wahlkampf eifrig Zweifel an der Verlässlichkeit der europäischen Verbündeten und droht mit einem Austritt aus der NATO. Ein Wahlsieg der Republikaner am 5. November könnte erhebliche Auswirkungen auf die Unterstützung der Ukraine und auch auf die NATO haben.
Was macht Europa, wenn die USA ausfallen sollten? Da preschte der französische Präsident Emmanuel Macron mit einem Vorschlag vor. Er äußerte sich bei einer Pressekonferenz zu einem internationalen Ukraine-Treffen. Das Thema Bodentruppen kam auf, weil zuvor der slowakische Ministerpräsident Robert Fico das erwähnt hatte und nun der französische Präsident danach gefragt wurde. Seine Antwort: Es darf nichts ausgeschlossen werden. Damit schien Macron, der im November 2019 der NATO noch den "Hirntod" bescheinigt hatte, an einem Konsens in der Allianz zu rühren: Militärische Unterstützungsleistungen ja aber keine westlichen Truppen in der Ukraine. Macrons Gedankenspiel über Bodentruppen in der Ukraine erntete ausnahmslos Kritik. Später stellte er klar, dass er nicht vorhabe, die NATO durch eine andere Institution zu ersetzen.
Trotz interner Querelen: Das Hirn der Allianz ist völlig intakt. Der Krieg in der Ukraine hat zu unerwarteter Geschlossenheit geführt. Das wesentliche Ziel lautet bis heute, Frieden und Sicherheit der Mitgliedstaaten mit politischen und, wenn es sein muss, auch militärischen Mitteln zu bewahren. Artikel 5 des Nordatlantikvertrags legt für alle Parteien fest, "dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen wird". Diese Beistandsverpflichtung erfolgt in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen, die das Recht der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung festschreibt. Erstmals wurde der "Bündnisfall" nach den Attacken der islamistischen Terrororganisation Al-Qaida vom 11. September 2001 ausgerufen.
Gegründet wurde das Bündnis am 4. April 1949. Damals unterzeichneten die Außenminister von zwölf Staaten in Washington den Nordatlantikvertrag. Damit gingen zehn westeuropäische Staaten, die USA und Kanada zu Friedenszeiten ein klassisches Militärbündnis ein. Gemeinsam mit Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Island, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen und Portugal gab die Gründung der Militärallianz nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine Antwort auf die Bedrohung von Frieden und Freiheit durch die Sowjetunion. Die Bundesrepublik Deutschland trat dem Bündnis, das sich auch als Wertegemeinschaft begreift, am 6. Mai 1955 bei. Zuletzt wurden Schweden und Finnland Mitglieder der NATO. Die früher neutralen Staaten haben im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ihre Sicherheitspolitik überdacht.
Derzeit gehören 32 Staaten dem Bündnis an: Albanien (Beitritt 2009), Belgien (1949), Bulgarien (2004), Dänemark (1949), Deutschland (1955), Estland (2004), Finnland (2023), Frankreich (1949), Griechenland (1952), Großbritannien (1949), Italien (1949), Island (1949), Kanada (1949), Kroatien (2009), Lettland (2004), Litauen (2004), Luxemburg (1949), Mazedonien (2020), Montenegro (2017), Niederlande (1949), Norwegen (1949), Polen (1999), Portugal (1949), Rumänien (2004), Schweden (2024), Slowakei (2004), Slowenien (2004), Spanien (1982), Tschechien (1999), Türkei (1952), Ungarn (1999), USA (1949).
Der euro-atlantische Raum ist nicht friedlich
75 Jahre NATO: Die Mitgliedsstaaten wollen das Bündnis neu ausrichten und der veränderten sicherheitspolitischen Lage in der Welt anpassen. Dass es tatsächlich zu fundamentalen Veränderungen in der Ausrichtung der Allianz gekommen ist, zeigt ein Vergleich mit dem bisherigen strategischen Konzept der NATO aus dem Jahr 2010. So gibt es eine neue Bewertung der Sicherheitslage im euro-atlantischen Raum. 2010 hieß es noch: "Der euro-atlantische Raum ist friedlich und die Gefahr eines konventionellen Angriffs auf NATO-Territorium ist gering." Dagegen heißt es im neuen Konzept kurz und knapp: "Der euro-atlantische Raum ist nicht friedlich." Insbesondere Russland, das 2010 noch als möglicher strategischer Partner der Allianz angesehen wurde, stellt nun die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Alliierten und die Stabilität im euro-atlantischen Raum dar.
Grund dafür ist die Invasion Russlands in der Ukraine. "Die Russische Föderation ist die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euroatlantischen Raum", heißt es im neuen strategischen Konzept. Russland versuche über Zwang, Subversion, Aggression und Annexion Einflussbereiche zu schaffen und unmittelbare Kontrolle zu erlangen. Angesichts dieser "feindseligen Politik" könne Russland nicht als Partner betrachtet werden. Mit Sorge blicken die NATO-Mitglieder zugleich auf die immer enger werdende strategische Partnerschaft zwischen der Volksrepublik China und Russland.
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