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Abenteuerliche Geschichte der Danziger Textilschätze

Die abenteuerliche Geschichte der Danziger Textilschätze.
Historisches Messgewand
Foto: BS | Fast schwebend: Historisches Messgewand in der Ausstellung.

Es ist eine Geschichte, wie sie das Leben auch in diesen Tagen schreiben könnte. Menschen werden durch den Krieg aus ihrer Heimat vertrieben. Sie fliehen in der Hoffnung auf freundliche Aufnahme in eine ferne Fremde. Manche von ihnen nutzen auf diesen Wegen zuvor geknüpfte Beziehungen und können sich des Willkommens am Zielort sicher sein. So ging es auch den evangelischen Christen der Danziger Marienkirche. Sie hatten sowohl über die Verbindungen zu ihren Mitchristen, als auch über das alte hansestädtische Netzwerk Verbindungen zur Partnerstadt Lübeck. Als die Lage in Danzig im Jahr 1944 angesichts der nahenden russischen Truppen brenzlig wurden, machten sich deshalb viele von ihnen auf, um an einem anderen Ufer der Ostsee eine neue Heimat zu finden.

Kein Platz im Handgepäck

Jeder, der Flucht und Vertreibung aus den Erzählungen der eigenen Familie kennt oder in den letzten Jahren Kontakt zu Geflüchteten hatte, weiß, dass man in einem solchen Fall nur das Allernotwendigste mitnehmen kann. Auch die Danziger Flüchtlinge hatten keinen Raum für Extras in Handgepäck. Mitgenommen wurde nur, was für das Überleben oder die Erinnerung essentiell und zugleich tragbar war. Genau darum hat die Geschichte der Danziger Textilschätze  eine so besondere Bedeutung. Denn bei diesen kostbaren Gegenständen handelt es sich um Messgewänder aus dem 14. Jahrhundert. Dass sie den Christen der Danziger Marienkirche so viel bedeuteten, dass deren Pfarrer Gerhard Gülzow nicht nur eine Wagenladung mit den Gewändern ins sichere Lübeck schicken, sondern auch vielen Familien diese kostbaren Textilien mitgeben konnte, zeigt, welch immensen Wert die Gläubigen in Danzig diesen Paramenten beimaßen. Der Umfang der Danziger Textilschätze ist gewaltig. Hunderte Objekte mit feinsten Stickereien mit purem Gold und hochwertigen Seidenstoffen, die bei Gottesdiensten und Prozessionen benutzt wurden, umfasst die Sammlung, von der sich heute die Hälfte als Dauerleihgabe im Lübecker St. Annen Museum befindet.

Nach Lübeck entführt

Schon vor der erzwungenen Verbringung nach Lübeck war die Geschichte der Danziger Paramente lang und bewegt. Angefertigt wurden sie von der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts bis ins späte 15. Jahrhundert eigens für die feierlichen Gottesdienste in der Marienkirche. Ein Messgewand zu stiften war den begüterten Familien und Bruderschaften, in denen sich die Fernkaufleute organisierten, eine Ehre und zugleich Teil ihrer spirituellen Praxis. Die Kostbarkeit und reiche Ausstattung der Paramente zeigen wie in einem Spiegel die Vernetzung der Fernkaufleute. Denn einige der Stücke sind aus asiatischen Seiden gefertigt und mit arabischen Inschriften versehen. Ihr orientalisches Flair macht, ähnlich wie bei den Bamberger Kaisermänteln, die damals schon globale Struktur der Handelswege deutlich. Werkstätten aus Lucca, Florenz, Bologna, Modena, Pisa, Venedig und Genua steuerten Stoffe für die Paramente bei. Viele von ihnen sind Lampasgewebe aus Seide mit eingewebten Gold- und Silberfäden, die für den einzigartigen Schimmer sorgen, der in der auf Konzentration bedachten Ausstellungsform im St. Annen Museum, die dem sakralen Charakter der Stücke Rechnung trägt, besonders wirkungsvoll aufscheint.

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Dass die Gewänder von den Kaufleuten und Bruderschaften gestiftet wurden, führte dazu, dass man sie auch nach der Reformation zunächst weiterverwendete. Eine ideologisch begründete Abkehr vom Tragen der Messgewänder wäre bei den zwar großzügigen, aber zugleich sparsamen und auf ihren Ruf bedachten Hansekaufleuten nicht infrage gekommen. Erst im 17. und 18. Jahrhundert setzte sich in den Gottesdiensten der Danziger Marienkirche langsam das Tragen protestantischer Gewänder durch. Angesichts der zahlreichen Kriege und der Plünderungen, die Danzig in diesen Jahrhunderten zu erleiden hatten, versteckte man die kostbaren Paramente zu ihrem Schutz in der Marienkirche und mauerte sie dabei zum Teil auch in Nischen ein. Dort gerieten sie, wie es nicht selten mit kostbaren Erinnerungsstücken geschieht, in Vergessenheit. Doch 1791 kamen sie bei Bauarbeiten wieder zum Vorschein. Daraufhin lebte die Erinnerung wieder auf und bei weiteren Suchaktionen wurden bis 1864 zahlreiche weitere Gewänder entdeckt. Im 19. Jahrhundert begannen Privatsammler und Museen sich für die Textilschätze zu interessieren.

Dauerleihgabe für das St. Annen Museum

1938 war rund die Hälfte der ursprünglichen Paramentensammlung verkauft. Sie zu retten, sah Pfarrer Gülzow als seine Aufgabe an und er hatte Erfolg. Die 541 verbliebenen Stücke wurden, sofern sie nicht Teil der Wagenladung waren, an die fliehenden Familien verteilt. Als die sich samt Pfarrer in Lübeck wieder trafen, sammelten sie die wertvollen Stücke und übergaben sie zunächst der Lübecker Marienkirche, wo sie ab 1964 auch ausgestellt wurden. Aus konservatorischen Gründen entschied man sich 1990 aber, die im Eigentum der Union Evangelischer Kirchen in der Evangelischen Kirche Deutschlands verbleibenden Textilschätze als Dauerleihgabe dem St. Annen Museum zur Verfügung zu stellen. Dort werden sie seit 2019 in wechselnder Auswahl in einem eigens dafür eingerichteten Raum der Dauerausstellung präsentiert. 200 nach Thüringen in das dortige Pfarramt gelangte Objekte, die 1949 beschlagnahmt und nach Danzig zurückgebracht wurden, befinden sich seitdem im Bestand des Danziger Nationalmuseums.

Die Paramentenausstellung in Lübeck ist neben dem spannenden zeitgeschichtlichen Aspekt auch ein Lehrstück in Liturgiegeschichte, Denn die alten Messgewänder zeigen den rituellen Reichtum der überlieferten Liturgie mit ihren vielen Bedeutungsebenen, in die der Träger und die Gemeinde sich durch ihre Verwendung gleichsam hineingespielt haben und dabei zugleich von ihr performativ durchdrungen wurden.

Beitrag  zur Erhaltung der kostbaren Paramente

Neben den Messgewändern finden sich auch Altardecken, Handtücher zum Trocknen der Hände nach der Handwaschung, stoffbezogene Corporalekästchen, Stolen und aufwändig gestaltete Chormäntel. Auf der Homepage des Museums (st-annen-museum.de) werden die Bedeutung der einzelnen Objekte, die liturgischen Farben und der Einsatz der Gewänder schlüssig erklärt. Das Museum leistet so einen wichtigen Beitrag nicht nur zur Erhaltung der kostbaren Paramente, sondern auch zur Verbreitung des Wissens rund um deren Einsatz in der Liturgie. Dass kostbare Erinnerungsstücke aus dem Glaubensleben in Zeiten von Krieg, Flucht und Vertreibung eine neue Heimat finden, ist ein Hoffnungszeichen für die betroffenen Menschen, zeigt es doch ein Stück der von Gott begleiteten Kontinuität des Lebensweges.

In der Verbindung der Hansestädte Danzig und Lübeck wird dieses geistlich-künstlerische Netzwerk nicht nur durch die Danziger Paramentenschätze, sondern auch durch das von Pfarrer Gerhard Gülzow auf dem Hamburger Glockenfriedhof geborgene Glockenspiel der Danziger Marienkrirche repräsentiert, das in der Lübecker Marienkirche eine neue Heimat fand.

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