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Muriel Spark - Bedenke, dass Du sterblich bist

Die Konversion zum Katholizismus gab der Schriftstellerin Muriel Spark einen festen Halt. Von Gerhild Heyder
Britische Schriftstellerin Muriel Spark ist tot
Foto: dpa | Bei Kardinal Newman fand sie Inspiration: Muriel Spark (1918–2006).

Kunst und Religion kommen zuerst; dann Philosophie, und zum Schluss die Naturwissenschaften. Das ist die Reihenfolge der großen Dinge im Leben, die Reihenfolge nach ihrer Wichtigkeit.“

Soweit die Lehrerin Jean Brodie in Muriel Sparks bekanntestem Roman „Die Blütezeit der Miss Jean Brodie“ von 1961, der zunächst 1960 im „The New Yorker“ vorabgedruckt wurde. Muriel Spark war die erste britische Autorin, der das angesehene Magazin eine ganze Ausgabe widmete, was den Ruhm des Romans nicht unwesentlich beförderte. Mittlerweile zählt er zu den Klassikern der englischsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, die britische Zeitung „The Guardian“ nahm ihn 2009 auf in die „Liste der 1 000 Romane, die jeder gelesen haben muss“.

Der sechste von über zwanzig Romanen der Schriftstellerin spielt in den Jahren 1930 bis 1939 in Edinburgh, dem Geburtsort von Muriel Spark. Die Titelheldin, Lehrerin an einer Mädchenschule, bevorzugt eine Gruppe von sechs Schülerinnen (die „Brodie-Clique“), die sie auch außerhalb des Lehrplans und der Schule betreut. Die Erzählung setzt 1936 ein, als die Mädchen sechzehn Jahre alt sind und blendet zurück ins Jahr 1930, als sie Schülerinnen von Miss Brodie wurden, die selbst nicht müde wird zu betonen, dass sie sich in der „Blütezeit ihrer Jahre“ befindet – sie ist etwa vierzig Jahre alt. Subtil benutzt die egozentrische, offensichtlich durchaus attraktive unverheiratete Frau die jungen Mädchen dazu, sich ihre politischen, ästhetischen und erotischen Wünsche zu erfüllen. Ihre Pläne gehen schlussendlich jedoch nicht auf; eines der Mädchen durchschaut die Manipulation und begreift, dass Miss Brodie wie die Vorsehung die Geschicke der sie umgebenden Menschen lenkt und glaubt, „sie sei Gott und sehe das Ende“.

Die Geschichte wird nicht chronologisch erzählt, Rückblenden und Vorausschau verknüpfen sich mit der Gegenwart, Wiederholungen erleichtern dem Leser das Sichzurechtfinden in der Zeitstruktur. Zu Recht gilt dieser Roman als einer der besten Muriel Sparks, die emotionslose und gleichzeitig mit britischem Humor gesegnete Darstellung komplexer Gefühlswelten führt fast unmerklich in immer abgründigere Tiefen unter der vermeintlich leichten Oberfläche.

Ein komplexes Innenleben war Muriel Spark wohlvertraut. Das zweite Kind einer anglikanischen Mutter und eines russischstämmigen jüdischen Vaters wird 1918 in einem Arbeiterviertel in Edinburgh geboren. Die Eltern leben zwar in schlichten finanziellen Verhältnissen, legen aber großen Wert auf eine gute Schulbildung ihrer Kinder. Muriel beginnt früh, die britischen Klassiker zu lesen und schreibt während der Schulzeit erste Gedichte, die in Schulmagazinen veröffentlicht werden. Ein Universitätsstudium kommt nicht in Frage, die junge Frau besucht nach der Schulzeit Sekretärinnen-Kurse und unterrichtet kurzzeitig an einer kleinen Privatschule Englisch, Naturkunde und Arithmetik. 1937 lernt die Neunzehnjährige den dreizehn Jahre älteren Mathematiklehrer Sydney Oswald Spark kennen und geht mit ihm in die damalige britische Kolonie Rhodesien, um ihn dort zu heiraten.

Die Ehe entwickelt sich zum Alptraum. Spark hatte der jungen Frau massive psychische Probleme verschwiegen, die in Afrika wieder zum Ausbruch kommen. Den Lehrer hält es an keiner Schule, er wird zunehmend depressiv und nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes 1938 auch gewalttätig gegen seine Frau. Eine Rückkehr nach Großbritannien ist Muriel Spark zu diesem Zeitpunkt nicht möglich, sie schafft es aber, mit ihrem Sohn in eine andere Stadt zu wechseln und sich mit Sekretariatsarbeiten mühsam über Wasser zu halten. Belauert und verfolgt von ihrem Mann reicht sie die Scheidung ein, die sich dann von 1939 bis 1943 hinziehen sollte. Die ersehnte Rückkehr in ihr Heimatland ist wegen des Krieges äußerst kompliziert und wird noch erschwert durch die Entscheidung der britischen Regierung, keine Kinder von im Ausland lebenden Briten mehr ins Land zu lassen. Sie entscheidet sich schließlich 1944 dafür, ihren kleinen Sohn in eine Pflegefamilie zu geben, während sie die risikoreiche Schiffsreise nach Großbritannien auf sich nimmt. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges arbeitet sie für den britischen Geheimdienst.

Nach dem Krieg beginnt Muriel Spark als Schriftstellerin zu arbeiten und veröffentlicht Gedichte und Literaturkritiken. Im Jahre 1947 wird sie Herausgeberin der renommierten Literaturzeitschrift „Poetry Review“. Privat ist diese Zeit geprägt vom zermürbenden Kampf um das Sorgerecht für ihren Sohn. Dieser lebt in Edinburgh bei ihren Eltern, die Vormundschaft für das Kind war in Rhodesien jedoch Sydney Oswald Spark zugesprochen worden.

1954 folgt der für ihr weiteres Leben entscheidende Schritt: Muriel Spark konvertiert zum Katholizismus, den sie später als ausschlaggebend für ihren Werdegang als Schriftstellerin ansah. Die berühmten (und ebenfalls zum Katholizismus konvertierten) Schriftsteller Graham Greene und Evelyn Waugh unterstützen sie ideell und finanziell.

Einige Jahre lebt sie in New York. In den 1960er Jahren lässt sich Muriel Spark in Italien nieder. Mit zahlreichen Preisen und Ehrungen ausgezeichnet – darunter der 1993 von Queen Elizabeth verliehene Titel Dame Commander of the Order of the British Empire – stirbt die Autorin 2006 in Florenz.

Der Katholizismus ist durchgängig präsent in ihrem umfassenden belletristischen Werk. Beeinflusst von John Henry Kardinal Newmans (1801–1890) Autobiografie „Apologia pro Vita Sua“, in der Newman seinen langen Weg zum katholischen Glauben beschreibt, vom früh suchenden kleinen Jungen über den Weg des anglikanischen Pfarrers bis zum katholischen Priester, finden sich in vielen Romanen Muriel Sparks an entscheidenden Stellen Zitate des berühmten britischen Konvertiten, elegant und mit kühler englischer Zurückhaltung platziert. Sie glaubte, ihre eigene Konversion zur katholischen Kirche werde ihr den Halt und das Selbstvertrauen schenken, ausschließlich als Schriftstellerin arbeiten zu können. Und weil sie daran glaubte, geschah es auch so. Sie deshalb als „katholische Schriftstellerin“ zu bezeichnen, würde voraussetzen, dass es unverkennbare Merkmale dieser Spezies gibt – dem ist nicht so. Ihre eigene Sichtweise auf das Leben und das ihrer Figuren ist aber zweifellos geprägt vom katholischen Bezugssystem und der katholischen Deutung und Meditation, die es ihr ermöglichen, ungewöhnliche und überrealistische Ebenen zuzulassen.

Die finden sich in allen ihren Romanen (und auch den Kurzgeschichten), die uns direkt in die jeweilige Zeit führen: in „Vorsätzlich Herumlungern“ (1981) ist es die Welt der literarischen Zirkel von 1949, die wir mit den Augen einer hoffnungsvollen Romandebütantin, die sich als Sekretärin für eine Gruppe exzentrischer alter Memoirenschreiber verdingt, sehen dürfen.

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist immer wieder Thema; naturgemäß fließen die eigenen Erfahrungen der jungen Muriel Spark ein, die eindrückliche Spuren hinterlassen haben. „Mädchen mit begrenzten Möglichkeiten“ (1963) spielt während des ersten Nachkriegsjahres in London und erzählt von einem Club für Mädchen, die dort inmitten der zerstörten Stadt Unterkunft gefunden haben. Auch hier begegnet uns ein Konvertit, der uns den bedenkenswerten Satz hinterlässt: „(…) dass eine Vision des Bösen genauso zur Konversion führen kann wie eine Vision des Guten“.

Im 1965 erschienenen Roman „Das Mandelbaumtor“ wird der Katholizismus zum zentralen Thema. Hier verarbeitet Muriel Spark ihre autobiografischen Erlebnisse einer Reise nach Jerusalem. Der Roman beschreibt wenige Wochen im Leben einer zum Katholizismus konvertierten halbjüdischen Lehrerin, die 1961 eine Pilgerreise in das geteilte Jerusalem antritt. Es geht um Grenzziehungen nicht nur geographischer Art; Religionen, politische Zugehörigkeiten, soziale Klassen und Volkszugehörigkeiten gipfeln in einer Identitätskrise zwischen Liebe und Religion, Katholizismus und Judentum. Durch den Roman zieht sich ein Zitat aus der Apokalypse (3, 16), mit dem die indifferente Glaubenshaltung einzelner Figuren kritisiert wird. Das ist historisch – gerade aus heutiger Sicht – sehr faszinierend, literarisch aber nicht so herausragend, weil zu viele Handlungsstränge untergebracht sind: der Eichmann-Prozess, Archäologie in Jordanien, arabische Geschäftemacher, eine weitere ältliche Lehrerin, die zum Islam konvertiert. Das ist etwas sperrig, die Autorin schafft es aber in ihrer labyrinthischen Erzählweise dennoch, dass man nicht aufgibt beim Entwirren der Fäden. Das Böse ist zwar fortwährend in Sicht, bedenklich aber ist seine Existenz nicht. Der Roman ist auf das Gute, auf den Ausgleich hin angelegt.

Der 1959 erschienene Roman „Memento Mori“ (neu übersetzt 2018 zum 100. Geburtstag der Autorin von Andrea Ott) spiegelt eine Meditation wider, eine Meditation über den Tod. Muriel Spark ist 39 Jahre alt bei ihrem dritten Buch, mit dem sie sich in die Welt älterer, kurz vor dem Ableben stehender Menschen begibt. Sind schon ihre jüngeren Protagonisten skurril bis exzentrisch, so sind es diese Alten erst recht – hatten sie doch viel Lebenszeit zur Verfügung, um Marotten und Wunderlichkeiten zu kultivieren.

Wir begegnen einer umfangreichen Ansammlung von Charakteren, die auf verschlungene Weise miteinander verbunden sind und die zum Zeitpunkt des Geschehens vor allem eins verbindet: sie werden von einem anonymen Anrufer belästigt, der immer nur einen Satz sagt, nachdem er sich vergewissert hat, mit der richtigen Person zu sprechen: „Bedenke, dass du sterben musst“. Da alle Personen die Stimme und das mögliche Alter des Mannes sehr unterschiedlich beschreiben, die eingeschaltete Polizei hilflos und unwillig agiert und niemand dem Anrufer auf die Spur kommt, drängt sich der Gedanke auf – der auch einmal ausgesprochen wird –, dass es sich um den Tod persönlich handeln könnte, der die Damen und Herren vorwarnt, damit sie möglicherweise ihr Leben und ihre Sünden (und sie alle haben Schuld auf sich geladen) noch einmal überdenken können, um sich vorzubereiten auf das, was unweigerlich kommen wird. Denn nur eines ist uns Menschen gewiss: wir werden alle sterben.

Eine schwer zu ertragende Gewissheit, die wir gerne verdrängen. Die Reaktionen von Muriel Sparks Figuren variieren denn auch von Ignoranz über Neugier und Forschungsdrang bis zu Panik. Denn alle glauben, sie seien an Leib und Seele gesund, seien der Nabel der Welt, und alle Phänomene ließen sich erklären. Und vor allem: sie müssten noch nicht sterben. Sie täuschen sich.

„Memento Mori“ erklärt uns wiederholt, dass wir zum Untergang bestimmt sind. Und vielleicht gerade deshalb haben wir Mitgefühl und Erbarmen verdient, und das empfinden wir auch in lichten, ergreifenden Momenten beim Betrachten dieser wirklich nicht sympathischen Personnage, die den Roman bevölkert. Sie sind alt, aber nicht weise, ihre Lebensenergie speist sich noch immer aus Gier, Lust, Angst, Neid, Grausamkeit und Bösartigkeit. Der sezierende Blick der Erkenntnis auf die menschliche Spezies ist bei Muriel Spark aber nicht deprimierend (die komischen Seiten werden keineswegs unterschlagen), sondern die Voraussetzung für ein drängendes Anliegen der Autorin: „,Memento Mori‘ zeigt das vielleicht schwerste Verbrechen auf Erden, das vermeidbare Übel, die menschliche Schuld: den Tod des Erbarmens.“ (Die Schriftstellerin A.L. Kennedy im Nachwort)

Vielleicht ist es das, was die große Kunst der Muriel Spark ausmacht, nicht alleine ihr großartiger Stil, der zwischen Philosophie, Nachdenklichkeit, dezent bösartigem Humor und Hyperrealismus changiert. Sondern ein zutiefst empfundener Blick des Erbarmens einer Frau, die vieles erlebt und gesehen hat, sich keinerlei Illusionen über die menschliche Natur hingibt, die aber dennoch nicht verurteilt und nicht verzweifelt – dank ihres Glaubens.

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