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Wahrheit über Bord

Im Netflix-Film „The Woman in Cabin 10“ fällt die Suche nach der Wahrheit fast ins Wasser. Zum Glück gibt es Journalisten.
Die Investigativ-Journalistin Laura Blacklock (Keira Knightley) meint, auf der Luxusyacht beobachtet zu haben, wie jemand ins Wasser stürzte. Da niemand ihr glaubt, beginnt sie an ihrem Verstand zu zweifeln.
Foto: Netflix | Die Investigativ-Journalistin Laura Blacklock (Keira Knightley) meint, auf der Luxusyacht beobachtet zu haben, wie jemand ins Wasser stürzte. Da niemand ihr glaubt, beginnt sie an ihrem Verstand zu zweifeln.

Simon Stones Verfilmung von Ruth Wares Roman „The Woman in Cabin 10“ ist ein elegantes Kammerspiel zwischen Thriller, Psychodrama und Gesellschaftsstudie – faszinierend und zugleich frustrierend. Laura Blacklock (Keira Knightley), eine renommierte Londoner Investigativjournalistin, trägt die Narben einer gescheiterten Recherche. Der Tod einer Informantin verfolgt sie bis in ihre Träume. Ihre Chefredakteurin (Gugu Mbatha-Raw) schickt auf einen vermeintlich harmlosen Auftrag: die Jungfernfahrt der Superyacht „Aurora Borealis“ des Milliardärs Richard Bullmer (Guy Pearce) und seiner todkranken Frau Anne (Lisa Loven Kongsli). 

An Bord trifft eine glänzende Gesellschaft aus Kunstwelt, High Society und Tech-Oligarchie zusammen – Menschen, die mit Luxus ihr Gewissen beruhigen. In dieser perfekt inszenierten Welt ist Laura, genannt „Lo“, wie ein kleiner Kratzer im Lack. Nachts hört sie eine Rangelei und sieht eine Person ins Meer stürzen. Doch niemand fehlt an Bord, und die Kabine 10, aus der das Geräusch kam, ist angeblich leer. 

Allein mit der Wahrheit

Damit reiht sich „The Woman in Cabin 10“ in eine Kinotradition ein: von Hitchcocks „Eine Dame verschwindet“ (1938) und „Das Fenster zum Hof“ (1954) bis zu Netflix‘ „The Woman in the Window“ (Joe Wright, 2021). Es geht ums Sehen, was andere nicht wahrhaben wollen, und ums Einsamsein mit der Wahrheit. Stone inszeniert den Moment als Grenze zwischen Realität und Wahnsinn, als Kampf einer Wahrheitssuchenden in einer Gesellschaft, die Fakten nach Belieben verbiegt. So wird der Film zum Spiegel unserer Zeit, in der Glaubwürdigkeit zur Ware geworden ist.

Technisch überzeugt das Produktionsdesign von Alice Normington in metallisch-blauen und silbernen Tönen; die Yacht symbolisiert Wohlstand und Isolation. Benjamin Wallfischs Score untermalt die Szenen mit einem kaum hörbaren Grollen. Doch Kameramann Ben Davis bleibt zu zurückhaltend: Wo bei Hitchcock Spannung pulsiert, gleitet Stone in elegante Manierismen ab – Atmosphäre über Rhythmus. Keira Knightley trägt den Film mit großer Intensität. Laura ist keine makellose Heldin, sondern eine Frau, die an sich zweifelt, aber standhaft bleibt, weil sie weiß, dass Suche nach Wahrhaftigkeit etwas kostet. Guy Pearce spielt mit einer Mischung aus Warmherzigkeit und Kälte den Gastgeber. Lisa Loven Kongsli als todkranke Anne verleiht ihrer Rolle stille Würde.

Doch das Drehbuch von Stone, Joe Shrapnel und Anna Waterhouse bleibt an der Oberfläche. Der soziale Kommentar über Reichtum und Heuchelei blitzt auf, wird aber nie vertieft. Die Nebenfiguren – Influencerin, Rockstar, Kunstmäzenin – wirken wie Karikaturen ihrer Klasse. Das Finale bringt zwar Aufklärung, aber keine Katharsis: ein Ende ohne Nachhall, das höflich abblendet, statt zu erschüttern.

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Und dennoch: Zwischen den polierten Flächen dieses Netflix-Produkts leuchtet für Momente etwas auf, was man „das moralische Echo“ nennen könnte. Laura Blacklocks unbeirrbarer Wille, sich selbst und anderen zu glauben, ist ein Akt des Gewissens. Der Film verweigert sich der zynischen Auflösung, vielleicht unbewusst. In einer Welt, die das Zweifeln mit Wahnsinn und das Glauben mit Naivität verwechselt, wirkt allein die Behauptung, es gebe Wahrheit, subversiv. Dass Simon Stone die spirituelle Dimension seiner Geschichte kaum berührt, bleibt sein größter Mangel. Wo Hitchcock, und auch Graham Greene, die Schuld als Ort der Gnade verstanden, lässt Stone sie ungenutzt liegen. Doch Knightleys Gesicht, erschöpft und entschlossen zugleich, erzählt davon trotzdem: vom Menschen, der sucht, weil er nicht aufhören kann zu glauben, dass es eine Wahrheit gibt, die niemand kaufen kann.

So bleibt „The Woman in Cabin 10“ ein Film voller Schatten und Spiegelungen – ein schöner, hohler Kristall, in dem sich manchmal ein echtes Licht bricht. Kein Meisterwerk, aber ein sehenswertes Beispiel dafür, dass selbst in stromlinienförmiger Netflix-Ästhetik noch ein moralischer Herzschlag hörbar sein kann.


Der Rezensent ist Historiker und schreibt zu Filmen und bildender Kunst.

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