Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Buchrezension

Der letzte Halt für die Seele

Ein Sammelband beleuchtet das Gebet für die Verstorbenen in unterschiedlichen Epochen und Kulturen.
Foto: Imago/Nurphoto | Allerheiligen auf mexikanisch: Am „Dia de los Muertos“ werden die Toten geehrt und symbolisch zum Festschmaus geladen.

Das Schweigen am Grab ist oft ohrenbetäubend. Und doch hallt in diesem Schweigen eine drängende Frage: Soll – ja, kann – für die Verstorbenen gebetet werden? Welche Hoffnung liegt darin, welche theologische Deutung trägt es, welche pastorale Gestalt nimmt das Gebet an? Kaum eine Praxis ist so vertraut und zugleich so umstritten – ein Elefant im Raum, der seit Jahrhunderten mitschwingt, ohne dass immer offen über ihn gesprochen wird.

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Dieser „Elefant im Raum“ – die Frage nach dem Sinn des Gebets für die Verstorbenen – findet schon im Mittelalter ein anschauliches Bild: Vinzenz von Beauvais schrieb einst: „Es gehört zum Wesen von Elefanten, dass wenn einer von ihnen stürzt und nicht mehr aufstehen kann, die übrigen herbeieilen und den um Hilfe Brüllenden aufrichten. Um wie viel mehr müssen wir den Seelen, die gestürzt sind, in der Qual des Purgatoriums durch Gebete und gute Werke zu Hilfe kommen!“

Totengebet als Solidarität über die Grenzen von Leben und Tod hinweg

Wie in diesem Bild wird sichtbar, dass das Totengebet Solidarität über die Grenzen von Leben und Tod hinweg ausdrückt: Es ist ein leises Netz, das Halt gibt, Hoffnung trägt und die Verbindung zwischen Lebenden und Verstorbenen stärkt. 

Vor diesem Hintergrund widmet sich der Band „Das Gebet für die Verstorbenen. Zugänge aus Theologie und Praxis“, herausgegeben von Andrea Riedl, Elias Haslwanter und Hans-Jürgen Feulner, dem Thema in beeindruckender Weite. Er vereint historische, systematische, liturgische und praktische Perspektiven und öffnet den Diskurs über das Totengebet zugleich für ein breites Publikum.

Der Band umfasst historische Entwicklungen, liturgische Zugänge, systematische Reflexionen sowie pastorale Praxis. Das Totengebet wird nicht isoliert als fromme Übung oder dogmatische Streitfrage behandelt, sondern in seiner ganzen Breite beleuchtet. Die historischen Studien lassen erkennen, wie tief das Totengebet im christlichen Leben verwurzelt ist.

Frühe kirchliche Praxis und reformatorische Kritik

Katharina Heyden zeichnet die frühe kirchliche Praxis nach, in der die Fürbitte für die Verstorbenen selbstverständlich Teil der Eucharistie war.  Andrea Riedl zeigt, wie das Mittelalter das Gebet für die Verstorbenen mit Vorstellungen von Fegfeuer und Ablass verknüpfte und damit zugleich Trost wie auch Konflikte erzeugte.

Martin Hein beschreibt die reformatorische Kritik, die zwar die katholische Praxis ablehnte, aber keineswegs zur völligen Abschaffung führte: Stattdessen entwickelten sich neue Formen des Gedenkens, die bis heute das protestantische Totengedenken prägen. So wird deutlich, dass das Totengebet zwar umstritten war, aber niemals ganz verstummte.

Liturgische Ausformungen in verschiedenen Konfessionen

Besondere Stärke entfaltet der Band in der Darstellung der liturgischen Ausformungen. Elias Haslwanter führt in die byzantinische Tradition ein, in der das Gedenken der Verstorbenen ein zentraler Bestandteil der Liturgie bleibt. Hans-Jürgen Feulner zeigt die Entwicklungen im anglikanischen Raum, wo das Totengebet eine eigene Prägung zwischen katholischem Erbe und reformatorischer Skepsis erhalten hat.

Auch orthodoxe, methodistische und freikirchliche Perspektiven finden Beachtung. Gemeinsam ergibt sich ein beeindruckendes Panorama: Über konfessionelle Grenzen hinweg erweist sich das Totengebet als gemeinsamer Schatz, der in unterschiedlichen liturgischen Sprachen Gestalt gewinnt.
Die systematisch-theologischen Beiträge greifen die grundlegenden Spannungen des Totengebets auf, ohne sie vorschnell aufzulösen.

Rupert M. Scheule untersucht kritisch, ob das Gebet für Verstorbene primär die Lebenden tröste oder ob es auch eine reale Wirkung für die Toten beanspruche. Klaus Vechtel SJ rückt die Nähe Gottes in den Mittelpunkt: Das Gebet wird hier als Ausdruck göttlicher Barmherzigkeit und als Verankerung der Verstorbenen in der göttlichen Gemeinschaft verstanden. Christian Lehnert reflektiert poetisch über Sprachlosigkeit am Grab, während Juan Rego den lateinamerikanischen Kontext aufgreift und zeigt, wie mexikanisches Brauchtum am „Día de los Muertos“ das Totengedenken als Feier der Gemeinschaft über den Tod hinaus interpretiert.

Totengebet zwischen Erinnerung, Fürbitte und Hoffnung

Diese Vielfalt macht deutlich, dass das Totengebet zwischen Erinnerung, Fürbitte und Hoffnung oszilliert und dass jede Antwort auf die Frage „Wem nützt das Gebet?“ fragmentarisch, aber theologisch fruchtbar bleibt.

Die praxisorientierten Kapitel zeigen eindringlich, wie das Totengebet heute in konkreten Kontexten lebendig ist. Ludwig Schmidinger etwa thematisiert das Gebet an Gedenkstätten, insbesondere an Orten nationalsozialistischen Terrors, und macht deutlich, wie Totengebet Erinnerung und Widerstand gegen das Vergessen verbindet.  Cornelia Egg-Möwes berichtet aus der Sterbebegleitung und zeigt, wie das Gebet am Lebensende Trauernden Halt und Orientierung schenkt.

Weitere Beiträge beleuchten die Rolle des Gebets in alltäglichen gottesdienstlichen Vollzügen und in neuen gesellschaftlichen Kontexten, etwa im Umgang mit säkularen Bestattungskulturen. So wird sichtbar, dass das Totengebet nicht nur Tradition ist, sondern eine lebendige Praxis, die Menschen in existenziellen Situationen begleitet, Sprache verleiht, wo Worte fehlen, und Räume öffnet, in denen Trauer, Erinnerung und Hoffnung nebeneinanderstehen.

Wertvoller Dienst für Seelsorge und wissenschaftlichen Diskurs

Der Sammelband überzeugt durch die Breite seiner Perspektiven und die ökumenische Offenheit. Er verlangt allerdings Bereitschaft zur intensiven Lektüre; nicht alle Beiträge sind leicht zugänglich, und das Verhältnis von Theorie und Praxis bleibt stellenweise unausgewogen. Dennoch ist das Werk ein bedeutender Beitrag zum theologischen Diskurs.

„Das Gebet für die Verstorbenen“ ist ein Grundlagenwerk, das die Praxis des Totengebets vollumfänglich beleuchtet. Es zeigt, dass die Fürbitte für die Verstorbenen nicht nur ein Relikt vergangener Zeiten ist, sondern eine lebendige Ausdrucksform christlicher Hoffnung. Damit leistet der Band sowohl für die wissenschaftliche Diskussion als auch für die Seelsorge einen wertvollen Dienst.


Andrea Riedl, Elias Haslwanter, Hans-Jürgen Feulner (Hrsg.): Das Gebet für die Verstorbenen. Zugänge aus Theologie und Praxis, Münster: Aschendorff Verlag, 2025, 530 Seiten, gebunden, EUR 69,–

Die Rezensentin ist Theologin, Bloggerin und freie Journalistin.

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